MORDMETHODEN
jahrelangen Streitereien zwischen den beiden gegensätzlichen Charakteren suchten sich nun ein Ziel. Laut stenografischer Mitschrift sagte Virchow Folgendes:
»Gegenüber der Behauptung [Hannibal Fischer werde ineinem Bericht indirekt verteidigt; M. B.] bin ich genötigt, Ihnen einige Stellen des Berichtes unmittelbar vorzuführen, von denen ich in der Tat nur annehmen kann, dass der Herr Ministerpräsident sich nicht Mühe genommen hat, den Bericht ganz zu lesen, indem ich vielleicht voraussetzen darf, dass es ihm genügt hat, den Schluss, soweit er sich gerade um die schwebende … Frage bewegt, seiner Prüfung zu unterziehen. Aber wenn er ihn gelesen hat und sagen kann, es seien keine solchen anerkennenden und sympathischen Erklärungen darin, so weiß ich in der Tat nicht, was ich von seiner Wahrhaftigkeit denken soll.«
Dieser Schlag saß zu tief. Virchow warf Bismarck nicht nur vor, eine wichtige Akte nicht gelesen, sondern auch noch die Unwahrheit darüber gesagt zu haben.
Nur wenige Tage später bestellte Bismarck einen Sekundanten, Herrn von Keudell. Virchow musste wohl oder übel nachziehen und bestellte Herrn von Hennig. Nun wurde die Sache brenzlig, denn sowohl Bismarck als auch Virchow waren Prominente; niemand wollte ihren Tod riskieren. Da die beiden aber auch zwei Weltanschauungen verkörperten, freute sich manch einer dennoch heimlich auf das Duell.
Doch so weit war es noch nicht. Am 8. Juni versuchte der Berliner Oberbürgermeister von Forckenbeck einzulenken und sagte vor dem Abgeordnetenhaus, eine parlamentarische Sache dürfe niemals außerhalb des Parlaments ausgefochten werden. Im Parlament, so sein Schlichtungsversuch, sei ein Duell aber nicht möglich, denn »Gesetz, Moral und gesellschaftliche Anschauung« verböten dies.
Parlamentspräsident Grabow sah das ebenso und meinte trocken, dass sich alle Abgeordneten der Geschäftsordnung des Hauses zu beugen hätten. In dieser seien Duelle nicht vorgesehen. Beschlossen und verkündet – die Sache sei damit erledigt, erklärte Grabow.
Kriegsminister von Roon, einer der Hauptgeschädigten des damaligen Schiffsverkaufs, stand auf Bismarcks Seite. Obwohl er natürlich »kein unbedingter Anhänger« des Duellssei, wäre doch »die persönliche Ehre das Schönste des Menschen, dessen Sicherung ihm allein« unterliege – trotz aller Gesetze. »Keine Macht der Erde« – also gewiss auch nicht die Geschäftsordnung des Parlaments – könne den persönlichen Ehranspruch entkräften. Wenn Virchow sich nicht entschuldige, stehe es Bismarck frei, die Mittel zur Wiederherstellung der Ehre zu wählen. Das Abgeordnetenhaus, so von Roon weiter, könne nach einer einmal gemachten Duellaufforderung gar nichts mehr verbieten, und Virchow könne bestenfalls noch entscheiden, welche Waffen er benutzen wolle. Eine beachtliche Meinung: Der preußische Kriegsminister stellt die Ehre nicht nur über das Gesetz, sondern vorsorglich auch über die gesetzgebende Versammlung.
Das alles freute die konservative Partei. Sie ließ durch ihren Sprecher verallgemeinernd verkünden, dass grundsätzlich jede Auseinandersetzung im Parlament auch »außerhalb des Hauses die Folge geben dürfte, welche passend erscheine«, also im Zweifel auch ein illegales Duell. Die Zeitungen hatten ihr Fressen gefunden.
Da also im Parlament keine Einigkeit herrschte und, abgesehen vom Spruch des Präsidenten, zum Glück kein Beschluss für oder gegen das Duell fiel, musste der Kriegsminister am kommenden Tag mittels einer Notiz bei Virchow anfragen, wie er nun fortzufahren gedenke.
In der heutigen Institutsgeschichte der Berliner Universitätskliniken (Charité), an denen Virchow wirkte, heißt es schlicht dazu, dass dieser, »zum Duell gefordert, es in der Überzeugung ausschlug, Waffen seien zur Lösung politischer Fragen nicht geeignet«. Ganz so war es allerdings nicht.
Virchow beendete die Auseinandersetzung stattdessen mit einer strategischen Meisterleistung. Am 17. Juni, zwei Wochen nach dem ursächlichen Wortgefecht, erklärte er im Parlament, seine damalige Rede habe die Entschuldigung bereits enthalten. Er glaube nach wie vor fest, dass Bismarck den umstrittenen Kommissionsbericht nicht gelesen habe. Wenn das aberwahr sei, dann hätte der Reichskanzler in der (nicht gelesenen) Akte logischerweise auch nichts Gutes erkennen können. Wenn das wiederum stimme, dann könne der Angegriffene auch nicht die Unwahrheit über den Inhalt des Berichtes gesagt haben. Denn niemand kann
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