MORDMETHODEN
heuchelnde Kranke sie hinters Licht geführt hatte, erstattete sie Anzeige. Tatsächlich verurteilte ihn das Amtsgericht wegen fortgesetzter Beleidigung nach § 185 des Strafgesetzbuches zu einer Gefängnisstrafe. Auch das Landgericht bestätigte in der zweiten Stufe des Verfahrens dieses Urteil. Aus heutiger Sicht erscheint es unglaublich, dass eine Person für ein Vergehen, das uns eher als Streich vorkommt, ins Gefängnis gehen sollte.
Die Sache ging in die nächste Instanz, und zwar vor das Stuttgarter Oberlandesgericht. Hier zeigte sich nun, wie gut es ist, dass Gesetze ausgelegt werden müssen. Sie sind meist recht allgemein gehalten, weil kein Gesetzbuch jeden denkbaren Fall im Detail vorhersehen kann und soll. »Dass unzüchtige Handlungen … als tätliche Beleidigung im Sinne des § 185 StGB gewertet werden können, ist allgemein anerkannt«, berichtet der Stuttgarter Oberlandesgerichtsrat Gerlach über das entstehende Hin und Her. »Andererseits verliert aber grundsätzlich jede die Ehre eines anderen berührende Handlung ihre Rechtswidrigkeit und damit überhaupt den Charakter einer Beleidigung, wenn der Betroffene mit ihr einverstanden war.« Dass die hilfsbereite Frau mit ihren therapeutischen Sitzungen »einverstanden war«, sie also freiwillig durchführte, wurde aber kaum bestritten. Also konnte der Schabernack des Rotbarts keine Beleidigung sein.
Damit hatte das Gericht einen weisen Spruch getan. Andernfalls wäre auch Fremdgehen eine tätliche Beleidigung – sowohl des Ehepartners als auch der Person, mit der man fremdgegangen ist. Wenn aber zwei im Übrigen vernünftige Personen außerehelichen Geschlechtsverkehr wünschenswert finden, dann willigen sie aus Sicht des Gesetzes freiwillig in eine Handlung ein, die eigentlichsozial unerwünscht ist. Innerhalb gewisser Grenzen können Menschen aber auf gesetzlich Verbrieftes – hier: den Schutz der Ehre in der Ehe – verzichten. Mit anderen Worten, wer sich sehenden Auges in eine schwierige Lage bringt und damit auf seine Ehre verzichtet, ist in der Regel selbst dafür verantwortlich. (Auf höher stehende Rechtsgüter wie die Menschenwürde oder das Recht am eigenen Leben kann man allerdings nicht verzichten.)
Im Rotbart-Fall ging das Landgericht nach dieser guten Nachricht aber einen Schritt weiter. Da die gutmütige Frau dem Geschlechtsverkehr nur zugestimmt hatte, weil sie der Lüge des Mannes glaubte, soll ihre Einwilligung rechtlich nicht gültig gewesen sein. Dadurch wurde die sexuelle Lust des Rotbarts doch noch strafbar.
Diese Entscheidung war zwar gut gemeint, aber trotzdem Unsinn. Denn die Frau war bei klarem Verstand und konnte sich sehr wohl für oder gegen das bizarre Anliegen entscheiden. Dabei muss es bleiben: Gesunden Menschenverstand kann kein Gesetz verordnen.
Innerhalb bestimmter Grenzen empfindet ohnehin jeder Mensch etwas anderes als unnormal und ehrverletzend. Das zeigt auch eine weitere Wendung des Rotbart-Falls: Die angeblich Impuls gebende Heilfellatio wurde zuletzt von mehreren Frauen durchgeführt, die der kranke Herr gleichzeitig zu sich bestellte. Darüber war die Klägerin nach eigener Angabe sehr froh. Sie meinte, »die Verantwortung nun nicht mehr allein tragen« zu müssen.
Solche Fälle sind uns meist unbegreiflich, und wir sind schnell geneigt, sie für das Ergebnis uns fremder Kulturen zu halten. Tatsächlich waren es stets türkischstämmige Menschen, die in den obigen Meldungen ohne Reue gemordet hatten. Da es immer um Ehrverletzung ging, fühlten sich die Täter, genau wie noch vor gut hundert Jahren viele deutsche Parlamentarier,nicht an die Gesetze gebunden. Sie waren fest davon überzeugt, ihre Notlage gut und gerecht bereinigt zu haben.
Auch Deutsche werden staatlicherseits aufgefordert, im Notfall nur ihrem Gewissen zu folgen. Das gilt für Soldaten und Polizisten (Gewissensentscheid) ebenso wie für Privatleute (Zivilcourage). Dass wir unsere kulturell geprägten Werte höher einschätzen als die anderer Kulturen, heißt aber noch lange nicht, dass wir objektiv Recht haben. Es werden damit nur Regeln willkürlich festgelegt, die in unserer Gesellschaft gelten.
Um also Verbrecher und Verbrechen zu verstehen, lohnt es sich, die seelischen Triebkräfte der Täter genauer zu betrachten. In unserem Beispiel geht es um Ehre. Die traditionelle türkische Gesellschaft unterscheidet dabei drei verschiedene Formen. Jeweils eine Art der Ehre kann verletzt werden, ohne dass die anderen beiden mit betroffen
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