MORDMETHODEN
bellte, wissen wir nicht. Vielleicht konnte er wegen des Windes und der geschlossenen Fenster Hauptmanns Witterung nicht aufnehmen und nichts hören? Dass die Frauen den Erpresserbrief bei ihrer Suche im Haus nicht sofort fanden, ist auch verständlich. Sie suchten nach dem Kind, nicht nach einem Brief. Lindbergh reiste vor der Hinrichtung Hauptmanns nach Europa, weil er vor Presse und Öffentlichkeit Ruhe finden wollte. Und dass er am fraglichen Dienstag zu spät nach Hause kam, erklärte sich vielleicht dadurch, dass man manchmal eben später als geplant nach Hause kommt.
Die Ermittlungen wollte er gern selbst führen, um sein Kind um jeden Preis zu retten. Dabei überschätzte er sich und unterschätzte die Polizei. Viele Menschen glauben, dass sie besser als andere arbeiten, ermitteln (oder sogar Fußball spielen) können. Gäbe man ihnen die Gelegenheit, würden wohl auch sie zu Unrecht die Leitung eines Polizeieinsatzes übernehmen. Lindbergh hatte diese Gelegenheit, weil er ein gefeierter Held war. Und Condons Telefonnummer? Sie stand nicht im Versteck in Hauptmanns Wohnung, weil die Polizei sie dorthin geschrieben hatte. Der Täter hatte sie selbst dort notiert.
Bitte sagen Sie das alles Ihren Mitjuroren. In diesem Fall hat ein einziger, richtig verstandener Sachbeweis mehr Gewicht als tausend juristische Erwägungen. Hauptmann hatte die Leiter gebaut und das Geld versteckt. Punkt.
Wenn Hauptmann allerdings kein deutscher Einwanderer und Lindbergh nicht das Idol einer ganzen Generation gewesen wäre, hätte der Fall auch anders ausgehen können. Wäre Hauptmann reich und berühmt gewesen und Lindbergh der arme Schlucker, wäre vielleicht der Pilot statt des Schreiners auf dem elektrischen Stuhl gelandet.
Es gilt also: Niemand braucht eine Entscheidung über die Täterschaft eines Menschen zu fällen, bevor nicht ein Fachmann die Sachbeweise verständlich dargelegt hat. Wenn diese etwas mit dem Fall zu tun haben und in sich stimmig sind, wenn sie außerdem zu den kriminalistisch gesicherten Tatumständen passen, dann ist jedes Gericht der Welt bereit, diese Beweise zu hören. Die Juroren sollten es auch sein. Alles andere, also Spekulieren, Raten und Meinen, wäre nicht nur leichtfertig und ungerecht, sondern auch Zeitverschwendung.
4. KAPITEL:
TÖDLICHE VERBRECHEN, TEILS TÖDLICHE STRAFEN
Wie sieht ein Mörder aus?
Nicht nur wenn es um Leben und Tod geht, ist es sinnvoll, Entscheidungen anhand solider Sachbeweise zu treffen. Schon die Anklage oder eine Vorladung zur Vernehmung kann einen Menschen in große Bedrängnis bringen.
So brandete Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine große Welle von Missbrauchsanschuldigungen gegen Väter auf. Sobald ein solcher Verdacht aus dem engen Familienkreis heraussickert, ist es den meisten Vätern kaum mehr möglich, sich gegen das Vorurteil zu wehren. Gerade in kleineren sozialen Verbänden, beispielsweise in Dörfern, Vereinen oder Betrieben, verbreiten sich Gerüchte überaus schnell. Die erste Frage lautet dann immer: Ist ihm diese Tat zuzutrauen?
Diese Frage ist unsinnig. Ist es kleinen und wirklich lieben Mädchen zuzutrauen, dass sie der Polizei eine frei erfundene Geschichte erzählen und diese auch nach Aufklärung des Falls noch aufrechterhalten (S. 107 )? Ist einem Mann, der seine minderjährige Stieftochter jahrelang sexuell genötigt hat, zwingend der Mord an der gesamten Stieffamilie zuzutrauen (wie in einem Fall des Autors im Jahr 2000 geschehen)? Ist es einem zuverlässigen Laborchef zuzutrauen, dass er genetische Fingerabdrücke erfindet, die den Angeklagten schwere Strafen bescheren, obwohl sie nicht die Täter sind (S. 270)?
Das Hauptproblem bei rasch getroffenen Einschätzungen ist, dass jeder Mensch zwei Seiten haben kann. Die seelischen Abgründe sind meist so gut verborgen, dass oft noch nicht einmal Eltern oder Ehepartner bemerken, was in ihrenKindern oder Gatten vorgeht, geschweige denn, dass sie es sich im Nachhinein erklären könnten. Der Serienmörder Jeffrey Dahmer († 1993) sprach beispielsweise nach seiner Verurteilung im Fernsehen mit seinem Vater darüber, was wohl in seinem Leben schief gelaufen sein könnte. Doch außer der Tatsache, dass Dahmer junior ein Scheidungskind war, schon sehr früh zum Trinker wurde und bereits als Kind gerne mit toten Tieren spielte, kam wenig Brauchbares ans Licht. Vater Dahmer, ein promovierter Chemiker, hat später ein sehr interessantes Buch geschrieben (Lionel Dahmer:
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