Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
die Augen hinter den verklebten Haarsträhnen fieberten. Ihre unartikulierten, tierhaften Schreie waren jetzt in Beschimpfungen übergegangen, die heiser und schrill aus ihrer bizarr verzerrten Mundhöhle drangen, so fremdartig war diese Stimme, sie schien zu einem anderen Körper zu gehören.
In seiner früheren Dienststelle hatten hin und wieder Prostituierte randaliert, Jäckle war also einiges an verbalem Unflat gewohnt, auch von Frauen. Doch der Schmutz, den diese Frau, die sonst so dezent auftrat, in ihrer verzweifelten, ohnmächtigen Wut von sich gab, ließ ihn schockiert den Atem anhalten. Bis sie ihn entdeckte. Mit einem bösartigen Röcheln ergriff sie die Scherbe eines heruntergeschlagenen Glasbilderrahmens und stürzte auf ihn los. Er wich der Scherbe aus, die blitzschnell auf sein Gesicht zustieß, spürte einen vagen Schmerz an der Schulter, bekam ihren Arm zu fassen, und ein gezielter kräftiger Faustschlag streckte sie zu Boden, wo sie benommen liegenblieb.
Als sie Paula in den weißen Wagen schoben und Doris Körner gerade von den Herren der Klinik »Wildfrieden« abtransportiert wurde, traf Werner Hofer ein.
»Was ist mit ihr?« Er deutete in Richtung der schnell leiser werdenden Sirene.
»Bewußtlos und ein paar Prellungen. Mehr weiß man noch nicht. Sie hatte Glück, daß dieses Gewächs den Fall gebremst hat.«
»Ist sie selber … ich meine, hat sie …?«
»Nein«. sagte Jäckle entschieden. »Sie hat nicht.«
»Was ist damit?« Hofer deutete auf Jäckles verbundene Schulter unter dem aufgeschnittenen Hemd.
»Leider nichts, was für die Frührente ausreicht.«
Ein Schatten fegte die Einfahrt entlang, beschnupperte Hofer mißtrauisch und begrüßte dann Jäckle mit übermäßiger Freude.
Hinter Anton erschien, außer Atem, Kollege Kreitmaier von der Nachtschicht. »Der Hund war allein im Haus der Körner, er rannte gleich hierher.«
»Danke. Ich kümmere mich drum. Ihr könnt gehen, der Hofer und ich spazieren mal ein bißchen durchs Haus.«
»Die von der Spurensicherung werden darüber nicht begeistert sein«, meinte Hofer, als Kreitmaier fort war.
»Mir wurscht«, brummte Jäckle. »Wo ist denn das Kind?«
»Weiß ich nicht.« Jäckle erinnerte sich in diesem Moment an Paulas Satz auf dem Anrufbeantworter: ›Ich bin wieder da.‹ Er und Hofer gingen ins Haus.
»Wonach suchen wir eigentlich?«
»Wir gucken uns nur ein wenig um«, antwortete Jäckle wolkig und inspizierte als erstes die Küche. Er bemerkte nichts Auffälliges.
»Jäckle, komm mal her, ich hab’ was!«
Hofer stand auf der Treppe und deutete auf die weiße Wand. Ein Abdruck, wie ihn schmutzige Finger hinterließen. Allerdings war das an der Wand kein Schmutz.
Anton stand im Flur vor der Tür zum Keller, steckte seine Nase schnaubend in den Türspalt am Boden und kratzte und bellte aufgeregt.
Jäckle und Hofer sahen sich an. Stumm öffnete Hofer die Tür und stieg die steilen Stufen hinunter. Jäckle knipste das Licht an.
»Oh, mein Gott!« stöhnte Werner Hofer und wich zurück.
Neben einem hölzernen Gartenstuhl lag Friedhelm Becker, genannt Vito, in seinem eigenen Blut. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.
»Ach du Scheiße«, flüsterte Jäckle. »Lag der etwa die ganzen Tage da unten?«
»Was meinst du mit ›die ganzen Tage‹?« fragte Hofer.
»Jemand hat ihn am Samstag hier reingehen sehen«, erklärte Jäckle knapp.
Hofer näherte sich vorsichtig dem Toten. »Also ich weiß nicht. Jäckle. Ich kenne mich da ja nicht so aus, aber wenn du mich fragst, dann ist der noch ziemlich frisch. Jedenfalls ist er noch warm.«
»Wie geht es ihr?«
Die junge Ärztin lächelte freundlich und ein wenig müde.
»In ein paar Tagen wird sie wieder okay sein, vielleicht morgen schon. Der Sturz war nicht das Gefährliche, aber was sie geschluckt hat: Schlafmittel und Halluzinogene. So was Ähnliches wie LSD. Es erzeugt Wahnvorstellungen. Der Sprung aus dem Fenster paßt recht gut dazu. Wenn Sie sie nicht so bald gefunden hätten …«
»Kann ich sie sprechen?«
»Wohl kaum. Die Mittel wirken noch.« Ihr blasses Gesicht drückte Entschlossenheit aus.
Jäckle sah sie ernst an und sagte: »Es ist wegen ihres Kindes. Wir wüßten gerne, wo es ist. Würden Sie sie fragen, sobald sie aufwacht?«
»Ich werde es veranlassen.« Sie deutete auf die Uhr, die an der Wand des Sprechzimmers hing, es war kurz nach fünf. »Mein Nachtdienst ist nämlich gleich zu Ende. Aber wenn es Ihnen hilft – vorhin hat sie im
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