Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Paula gestolpert, die lang ausgestreckt auf den rötlichen Steinen ihrer Terrasse lag, halb verdeckt von ein paar heruntergerissenen Ranken.
Jäckle beugte sich zu ihr hinunter. Gerade, als ihr schwacher Puls unter seinen Fingern zuckte, wie der Flügel eines Nachtfalters, in diesem Moment hörte er das Schreien.
Doris sah Paula aus dem Fensterrahmen verschwinden, wie eine Figur beim Kasperltheater. Sie hörte flüchtig das Knacken von brechenden Ästen, aber da war sie schon fast an der Treppe nach unten. Es war ihr gleichgültig, ob Paula tot war, sich bloß die Knochen gebrochen hatte oder an dem Zeug eingehen würde, das sie ihr verabreicht hatte. Wie gut, daß sie einen Teil davon über all die Jahre aufbewahrt hatte, in der Speisekammer, zwischen den bunten Gläsern mit eingemachter Marmelade. Es war der Grund, weswegen sie damals aus dieser Arztpraxis geflogen war, es ließ sich einfach zu gut an die Freunde ihrer Freunde verkaufen. Selbst wenn Paula den Sturz und die Pillen überlebte, sie würde ihr nicht länger im Wege stehen, sondern den Rest ihres Daseins im Gefängnis, nein, eher in einer Anstalt verbringen, was auf dasselbe herauskam. Sie lachte in sich hinein. Wie komisch das Leben sein konnte! Paula würde exakt so enden, wie sie es insgeheim immer befürchtet hatte: wie ihr Vater. Dumme, leichtgläubige Paula!
Während sie ohne Hast die Treppe zum ersten Stock hinunterging, redete sie stumm für sich: Simon, mein Liebling, gleich ist es soweit. Jetzt werde ich dich warm und weich einpacken und wegtragen, hinaus aus diesem schrecklichen Haus. Du wirst schlafen, und morgen früh wird alles in Ordnung sein, so, wie es sein soll. Du verdienst eine richtige Familie, Vater, Mutter, Kind. Jürgen wird staunen! Er wird ein bißchen überrascht sein, aber das kriegen wir schon hin. Er wird dich lieben, du wirst sehen. Ein Kind braucht einen Vater, und er ist ein guter Vater. Als ich das letzte Mal von einer neuen Familie gesprochen habe, da hat er noch etwas zögerlich reagiert. Wahrscheinlich dachte er an ein Baby, an Nächte voller Geschrei und Windeleimer im Bad. Ich konnte ihm ja noch nichts sagen, verstehst du? Es war ja unser Geheimnis, Simon. Mein Simon. Endlich mein Kind. Du gehörst nicht zu dieser Verrückten, die dich durch einen launenhaften Irrtum des Schicksals geboren hat, du gehörst zu mir. Du spürst unsere Seelenverwandtschaft auch, ich weiß das. Ja, das ist es, was uns verbindet: Seelenverwandtschaft. Das ist das einzige, was zählt. Auf die Biologie ist nämlich kein Verlaß, weißt du, sie ist grausam und voller Willkür, dafür war Max das beste Beispiel. Max! Nie war er mein Kind! Wie könnte so eine Kreatur mein Kind sein? Er hat seinen Tod verdient, er hat jeden Tod verdient. Er hat mich betrogen, er schlich sich in mein Leben, ich habe unter ihm gelitten, noch ehe er geboren war. Er tat nur so, als sei er mein Kind, aber er war ein Monstrum, ein gräßliches Mißgeschöpf, das nicht zu mir gehörte, das mich nur benutzte, mir weh tat, mich zerstören wollte. Wir wollen nie mehr von ihm sprechen, auch nicht von Paula, denn ich bin ja deine Mutter, und du wirst sie schnell vergessen haben …
Sie war an der Tür zu Simons Zimmer angelangt. Auf der Schwelle hielt sie an, um den Glücksmoment ein paar Sekunden lang auszukosten. Leise wie eine Katze trat sie in sein Zimmer, beugte sich über das Bett und zog die Decke vorsichtig beiseite.
Bruno Jäckle schob Paula seinen Mantelärmel unter den Kopf und deckte sie mit dem Rest flüchtig zu. Dann rannte er ins Haus. Anhaltende Schreie hallten von den Wänden, dazwischen ein seltsames Klingeln, das er nicht einordnen konnte. Die Schreie dagegen konnte er einordnen: Es waren die einer Wahnsinnigen.
Jäckles Hirn arbeitete trotz allem kühl und rationell. Das Telefon. Zuerst Paula, den Notarzt. Mit leiser, aber klarer Stimme machte er die nötigen Angaben in der korrekten Reihenfolge. Dann ging er nach oben.
Die Tür zu Simons Zimmer stand offen. Doris Körner schlug mit einem Kinderxylophon ziellos nach allen Seiten um sich, bei jedem Schlag klirrten und klingelten die bunten Metallplättchen. Sie war umgeben von zerfetzten, ausgeweideten Stofftieren. zertrampeltem Spielzeug, zerrissener Kinderkleidung und kaputten Bildern, sogar die hölzerne Flugzeuglampe war heruntergerissen. Ein eindrucksvolles Szenario der Zerstörung, Kampfspuren eines verzehrenden Hasses. Glitzernder Schweiß rann ihr über das Gesicht, ihre Hände bluteten,
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