Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
nicht mehr begegnet. Vielleicht hielt er sich in seinem Bauwagen verkrochen wie ein verletztes Tier. Wenn er klug ist, dachte Paula, dann verläßt er diese Stadt, die ihm nichts als Mißtrauen und Haß entgegenbringt.
Sie blieb stehen und sah nachdenklich auf die Wasserfläche. Ihre Gedanken wanderten zu Max. Seltsamerweise hatte sie Max’ Verschwinden von Anfang an mit dem See verbunden. Vielleicht, weil der Hund diese offenbar falsche Spur gelegt hatte. Vielleicht hing es auch mit ihrem Traum zusammen. Manchmal fiel es ihr schwer, klare Trennungslinien zwischen Traum und Wirklichkeit zu ziehen. Etwas knackte. Horchend spähte sie durch das unregelmäßige Netz aus Ästen um sich herum. Nichts war zu sehen. Ein dünner Zweig federte, wahrscheinlich war er eben vom Gewicht eines Vogels befreit worden. Es war überaus still, bis auf das ganz leise Plätschern der Wellen auf den bemoosten Steinen des schmalen, sandigen Uferstreifens. Der Grund war hier zum Baden ungeeignet, man sank sofort in tiefen Schlamm, weshalb vor Jahren der Steg errichtet worden war. Eine Liegewiese gab es nicht, das Gelände war zu sumpfig. Durch ein hölzernes Gatter, das nur noch an einer rostigen Angel befestigt war, verließ sie ihr Grundstück. Der Weg, er wucherte von Jahr zu Jahr mehr zu und war jetzt kaum noch als solcher zu erkennen, bog in ein Waldstück ein. Nur ab und zu verirrte sich ein versprengter Pilzsucher oder ein Jogger, der noch nicht begriffen hatte, daß heutzutage Mountainbiking angesagt war, in das unwegsame Gelände.
Zweige mit verfaulten Blättern, schwer von angefrorener Feuchtigkeit, streiften ihren Mantel. Paula fröstelte. Sie spürte, daß sie nicht alleine war. Sie hätte nicht sagen können, woran sie es merkte, aber sie wußte, daß sie beobachtet wurde. Ein wenig schneller als vorhin lief sie den überwucherten Pfad entlang, vorbei an einem alten Fischerboot, das schon seit Jahr und Tag hier lag und auf dessen Boden eine schwarzgrüne Pfütze moderte. Sie hatte sich nie darum gekümmert, wem es eigentlich gehörte. Aus dem Dickicht drang ein Geräusch. Kein Zweifel, da war jemand. Es hatte sich angehört wie Zweige, die an einer Jacke entlangstrichen. Mit einem Mal wurde ihr bewußt, wie hilflos sie hier war. Sie entschloß sich, so rasch wie möglich nach Hause zu gehen, und drehte sich um.
Ihr Schrei blieb irgendwo in ihrer Kehle stecken. Reglos stand er vor ihr und blickte ihr ins Gesicht. In seiner Hand lag ein kurzer, faustdicker Prügel, den er langsam hochhob. Paula duckte sich reflexartig.
Der Stock klatschte weit draußen ins Wasser. Seine sandfarbenen Augen blickten Paula mit einem amüsierten und gleichzeitig neugierigen Ausdruck an. Er trug denselben Arbeitskittel wie vor zwei Monaten, als sie ihn beim Schuppen zum letzten Mal getroffen hatte. Seinen Arbeitslohn hatte sie zu seiner Mutter gebracht, in die schäbige Zweizimmerwohnung, die vollgestopft war mit Sperrholzmöbeln und billigen Ziergegenständen auf gehäkelten Spitzendeckchen. Es war sicher kein Zufall, daß er heute wieder auftauchte.
Paula stellte sich neben ihn und folgte seinem Blick, aufs Wasser. Der Stock dümpelte eine Weile vor sich hin, fast als würde er für immer und ewig an dieser Stelle schwimmen, dann wurde er von einer unsichtbaren Strömung erfaßt, die ihn auf den Auslauf zutrieb. Sie folgten dem Stock den Uferweg entlang. Schließlich standen sie da und schauten hinunter, auf einen Teppich aus Blättern und Algen, in dem sich eine Menge Treibgut versammelt hatte. Auch der Stecken war dabei.
»Das Wehr«, sagte Bosenkow unvermittelt, »das müßte man sich mal genauer anschauen.« Paula antwortete nicht, sie wartete eine Weile, kam sich dabei zunehmend blöde vor, außerdem fror sie. Unabsichtlich schlugen ihre Zähne aufeinander. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung, in der eine absolute Selbstverständlichkeit lag, legte er seinen Arm um Paula. Sie spürte das Gewicht des Armes und die Wärme seiner Hand durch den Stoff ihres Mantels und rührte sich nicht, eine ganze Weile lang, während sie auf einmal Regungen wahrnahm, für die sie in letzter Zeit nur Spott übriggehabt hatte.
Er nahm den Arm von ihrer Schulter und setzte sich in Bewegung.
Sie lief hinter ihm her, die Frage, warum sie das tat, stellte sie sich erst gar nicht. Er bog vom Uferweg ab, es ging ein Stück durch den Wald auf einem Pfad, den vermutlich nur er und ein paar Rehe kannten. Sie kreuzten den breiten Spazierweg, der zur
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