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Mordskind: Kriminalroman (German Edition)

Mordskind: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Mordskind: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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dieser.

Die Forellentheorie
     
    Der erste Schnee verhüllte die Landschaft, die jetzt wie ein Werk von Christo aussah, aber nur für zwei Tage, dann zerstörte die Natur ihr Kunstobjekt durch einen warmen Regen, und grauer, schmutziger Matsch schwappte in den Straßen.
    Eine Einbruchsserie im westlichen Villenviertel der Stadt, wo respektable Gemeindemitglieder wie Hermann und Barbara Ullrich lebten, beschäftigte Bruno Jäckle. Trotzdem verlor er die Fälle der verschwundenen Kinder nicht aus den Augen, zumal ihm Staatsanwalt Monz mindestens einmal wöchentlich mit peinlichen Fragen zusetzte. Jäckle fühlte sich wie ein Goldhamster in einem Laufrad.
    Paula hatte in der Redaktion eine Menge um die Ohren, aber sie war beinahe dankbar für die viele Arbeit, die sie die meiste Zeit vom Grübeln ablenkte. Trotzdem mußte sie immer wieder an Max denken und an Tante Lillis Zeitpunkt-Theorien, und von da war es nicht weit zu ihrem Traum, dem Erwachen auf dem Sofa und den schmutzigen Schuhen an jenem Morgen. Aber wäre Max schon in der Nacht verschwunden, hätte Doris doch sofort Alarm geschlagen. Wozu dann der Mummenschanz, den Lilli ihr unterstellte? Um jemanden zu schützen, hatte sie gesagt. Doch so weit würde keine Freundschaft gehen, immerhin handelte es sich um das eigene Kind. Nein, das alles waren Hirngespinste von Lilli. Sie hatte schon immer eine ausschweifende Vorstellungskraft besessen.
    Paula schatte es meistens, ihre Gedankengänge an dieser Stelle zu stoppen, sie als aberwitzige Phantasien abzutun, aber das dumpfe Unbehagen ließ sich nicht restlos vertreiben.
    Max war und blieb verschwunden. Vermißt wurde er von niemandem. Zwar erhielt Doris jede Menge teilnahmsvolle Bekundungen zum Verlust ihres Sohnes, doch nicht einem der Kondolanten fehlte er wirklich. Das vorherrschende Gefühl unter den Müttern, Kindern und Kindergärtnerinnen, so schien es Paula, war eine schlecht verhohlene Erleichterung. Seit Max fort war, herrschte Friede. Ein stiller, trügerischer, verführerischer Friede, in der Siedlung,, am Spielplatz, im Kindergarten und auch in Paulas und Simons Leben. Paula gestand sich ein, daß der Alltag ohne Max wesentlich unbeschwerter verlief. Simon, der nun aus Max’ Schatten trat, fand neue Freunde, die sich vorher nicht an ihn herangewagt hatten. Paula freute sich für ihn. In Momenten düsterer, rational nicht zu begründender Vorahnungen wünschte sie sich, die Zeit möge stehenbleiben.
    Weihnachten war auf einmal nur noch eine gute Woche entfernt. Doris bastelte mit Simon Strohsterne und Krippenfiguren, außerdem besorgte sie ihm eine Skiausrüstung und meldete ihn für die Weihnachtsferien zum Skikurs an. Sie würde ihn hinbringen und abholen. Paula begrüßte diese Idee voller Dankbarkeit, ihr Terminkalender ließ keinen Raum für solche zeitraubenden Extras.
    An diesem Samstag war Simon zu einem Kindergeburtstag eingeladen worden, und Paula wollte die freie Zeit ursprünglich nutzen, um an einer Glosse über Betriebsweihnachtsfeiern zu arbeiten. Doch sie war überarbeitet und erschöpft, es fehlte ihr die nötige Konzentration, ihr Geist arbeitete träge, und die wenigen Einfälle, die ihr kamen, gefielen ihr nicht. Sie gab auf, schlüpfte in ihren Mantel und ging trotz des leichten Nieselregens hinaus zum See. Vielleicht würde die Stille inspirierend wirken. Außer ihr war kein Mensch unterwegs, es war weder das Wetter noch die Jahreszeit für Spaziergänge. Paula liebte diese Stimmung dennoch. Die Welt zeigte sich in diesen Tagen, wie sie wirklich war, in ihrer ganzen Nacktheit. Keine camouflierende Blütenpracht, kein strotzendes, ordinäres Grün, kein schillerndes Herbstlaub und keine zauberische Schneedecke verschleierten den Blick auf das Eigentliche. Das Land lag da wie das ungeschminkte Gesicht einer Frau nach einem langen, anstrengenden Tag oder einem langen, anstrengenden Leben. Was jetzt immer noch schön war, das hatte Bestand. Der See beispielsweise. Kahle Äste umrahmten wie ein Netz die dunkle, leicht gekräuselte Wasserfläche, aus der sich der moosiggrüne Steg schief emporreckte. »Betreten verboten« stand auf einem morschen Schild, das seinerzeit Tante Lilli aus Gründen der Haftung hatte anbringen lassen. »Betreten lebensgefährlich« müßte da draufstehen, überlegte Paula. Wollte dieser Bosenkow ihn nicht reparieren? Er hatte recht, für Kinder war der rutschige Steg eine Falle. Wo er wohl war? Seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft war sie ihm

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