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Mordskind: Kriminalroman (German Edition)

Mordskind: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Mordskind: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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Marienkapelle führte, verließen kurz darauf den Wald, kletterten über die rostigen Zäune von ein paar verwilderten Schrebergrundstücken.
    In seinem Wagen war es dämmrig, an einer blauen Gasflasche klemmte ein Ofen. Es war warm, zu warm, und es roch wie auf einem Speicher. An einer Wand standen eine Reihe Bücher, die Titel in kyrillischer Schrift. Die Bilder, von denen Jäckle gesprochen hatte, waren nicht mehr da, statt ihrer hing da ein Poster, ohne Rahmen, mit Reißzwecken an der Holzwand festgemacht. Es zeigte ein Gemälde von Chagall: Ein grünes Männergesicht, das Profil vor einer leuchtend roten Fläche, blickte es mit leeren, weißen Augen in die einer Ziege oder eines Schafs, während sich drum herum ländliche Alltagsszenen gruppierten. Paula stand davor und grübelte dem Titel nach. Ihr Mantel wurde sachte von ihren Schultern gehoben.
    »Es heißt ›Ich und das Dorf‹.«
    »Bist du der grüne Mann?« Er gab keine Antwort, bückte sich und kramte in einer Holzkiste. Paula blieb stehen, Stuhl sah sie ohnehin keinen, nur ein selbstgezimmertes Bett und einen wackelig aussehenden Klapptisch, auf den er nun eine Flasche Kognak stellte.
    »Ich hasse Wodka«, erklärte er. Es gab nur ein Glas, ein Senfglas mit bunten Comicfiguren darauf. Ihr Anblick übte für einen Moment eine ernüchternde Wirkung auf Paula aus, und sie erkannte: Ich benehme mich hoffnungslos daneben. Wer bin ich eigentlich, Lady Chatterley? Nein, ich bin Paula Nickel, vierzig Jahre alt und gerade dabei, mich lächerlich zu machen, komplett lächerlich.
    Sie genehmigte sich einen Schluck Kognak, während sich seine rauhe Hand auf ihren Nacken legte. Heftig, fast aggressiv, stieß sie ihn weg, er fiel auf das Bett, wo er einfach liegen blieb und sie ansah. Mit schier unerträglicher Langsamkeit beugte sie sich zu ihm hinunter, tauchte ihren Blick in diese Augen, die jetzt aussahen, als hätte man gegen einen Spiegel gehaucht, und ihr kühler Verstand verabschiedete sich, wenigstens für einen Zeitraum, den zu messen einer gewöhnlichen Uhr versagt war.
    Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Noch immer war kaum etwas zwischen ihnen gesprochen worden, beide wußten sie um die zerstörerische Kraft von Worten. Als sie das Seeufer erreichten, blieb er stehen und begann plötzlich zu reden, in seiner langsamen, schleppenden Weise: »Nachts schlaf’ ich so gut wie nie. Ich lauf’ gerne rum. Ich schau’ gerne in Fenster.«
    »Das weiß ich.«
    Die Worte brachten ihn anscheinend für mehrere Minuten aus dem Konzept. Paula wartete.
    »Das ist ein Moorsee«, fuhr er fort. Er wirkte geistesabwesend, als spräche er mit sich selber. »Der Moorboden ist so weich, der schluckt erst mal alles. Wenn er genug hat, kotzt er’s wieder aus.« Er sah Paula an und lächelte sein eigentümliches Lächeln.
    »Sind in Wirklichkeit bloß Gase. Faulgase. Bilden sich, je nach Wassertemperatur, mal schneller, mal langsamer. Sie blasen die Bauchdecke auf wie einen Luftballon, der Schlamm gibt nach, der Körper taucht auf. Das, was dann noch übrig ist, ist kein schöner Anblick mehr. Es gibt ein paar Aale da unten, die gehen zuerst an die Innereien … Taschentuch?«
    Paula schüttelte den Kopf. Ihr Magen rebellierte.
    »Was ich sagen wollte«, meinte er ungerührt. »Im Oktober, bei der Wassertemperatur, da hätte das Paket schon längst ankommen müssen.«
    Paula schluckte. Ihr war plötzlich so übel, sie vermochte kaum klar zu denken. Damit schien es an diesem Nachmittag ohnehin zu hapern bei ihr. Stumm standen sie nebeneinander, berührten sich nicht, bis er in weicherem Tonfall weitersprach, ohne an das Vorherige anzuknüpfen: »Wenn in der Siedlung die Lichter aus sind, gehe ich oft zum See. In der Nacht, in der du Geburtstag gefeiert hast, war ich auch da. Erst im Garten, dann am See. Sehr lang am See. Einmal habe ich was gehört, ganz nah beim Steg. Ich habe mich versteckt. Es ist jemand durch den Garten gegangen. Ich habe gewartet, bis alles still war, und bin dann zum Ufer. War aber nichts zu sehen.« Er hielt inne, als müsse er überlegen, wie es weiterging.
    Paula bekam wildes Herzklopfen. »Wer war das?« fragte sie mit spröder Stimme.
    Er antwortete nicht. Vergeblich suchte sie in seinen Augen nach der Vertrautheit, die sie vor wenigen Minuten noch darin gefunden hatte. Er ging ein paar Schritte weiter auf Paulas Grundstück zu. Sie folgte ihm.
    »Wer?« fragte sie wieder, und die Angst vor seiner Antwort fühlte sich an wie ein

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