Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Dieses Wochenende hatte er einen Unfall.«
»Einen Unfall? Nun sagen Sie schon, was passiert ist!« fuhr sie Paula unwirsch an. Vera zog eine Schnute und genoß ihren Informationsvorsprung. »Er ist vom Pferd gefallen. Komplizierter Beinbruch. Liegt noch im Krankenhaus. Der Ärmste wird wohl eine Zeitlang da bleiben müssen, das hat mir Frau Weigand anvertraut.« Sie sprach in feierlich gedämpftem Ton, als handelte es sich um ein heikles Staatsgeheimnis.
Ach du Scheiße! Wie ist denn das passiert? Ist er etwa von der ›Bestie von Maria Bronn‹ angefallen worden?«
»Ist es nicht entsetzlich?« flüsterte Vera.
»Natürlich ist es das, wer soll denn die ganze Arbeit …?«
»Nein«, unterbrach Vera ungeduldig, »ich meine, das mit dem Russen. Daß der jetzt wieder frei rumläuft? Wozu zahlen wir eigentlich Steuern, wenn die Polizei nichts gegen solche … solches Gesindel unternimmt?«
»Schön gesagt. Sie sollten in die Politik gehen, Vera.«
Taub für jeglichen Zynismus, ließ Vera ihrem geballten Unmut freien Lauf: »Warum müssen überhaupt diese ganzen Russen zu uns kommen und uns auf der Tasche liegen
Paula lächelte falsch: »Genau! Wir Deutsche sollten doch viel lieber unter uns bleiben, gell, Frau Janoworski?«
Irritiert wollte Vera davontrippeln. Bei dieser Nickel wußte man nie, wann sie freundlich und wann sie boshaft war, im Zweifel immer letzteres. Aber dann fiel ihr der Grund ihres Hierseins wieder ein, und die nächsten Worte bereiteten ihr sichtlichen Widerwillen. »Herr Weigand bittet Sie, ihn bis auf weiteres zu vertreten.«
»Mich?« fragte Paula verwundert. »Warum nicht den Schulze?«
»Das müssen Sie schon den Chef selbst fragen«, meinte Vera kühl. Man sah ihr an, daß sie lieber den Schulze als Vertretung gesehen hätte, denn der machte ihr fadenscheinige Komplimente, auf die sie prompt hereinfiel.
Das hat mir noch gefehlt, dachte Paula. Was sollte sie mit Simon machen, wenn sie ab sofort reichlich Überstunden zu leisten hätte, und danach sah es im Moment aus. Verdammter Gaul! Sollte sie Weigand bitten, seine Vertretung dem Schulze zu übertragen? Ihr Blick fiel erneut auf seinen jüngsten Artikel, und alles in ihr sträubte sich gegen diese Idee.
»Na gut«, sagte sie seufzend zu Vera, »dann rufen Sie mal bitte die Mannschaft zusammen, zur Krisensitzung.«
»Wie Sie wünschen, Chefin.« Vera verzog die für die Tageszeit zu dramatisch geschminkten Lippen zu einem Lächeln und trug ihren aerobicgestählten Hintern davon.
Doris, überlegte Paula, ob ich Doris bitten soll, Simon vom Kindergarten abzuholen und für ein paar Stunden bei sich zu behalten? Früher wäre das kein Problem gewesen, aber wie würde sie nun reagieren? Nein, es wäre unsensibel und taktlos, völlig ausgeschlossen. Aber wen sonst? Lilli? Die war eben erst abgereist. Eine Rückkehr auf unbestimmte Zeit konnte man unmöglich von ihr verlangen. Zum ersten Mal bereute Paula, keine engeren Kontakte zu ihrer Nachbarschaft unterhalten zu haben.
Gegen Mittag wählte sie zögernd Doris’ Nummer und brachte umständlich und verdruckst ihr Anliegen vor.
»… und niemand weiß, wie lange er krank sein wird, vielleicht sogar bis Weihnachten. Aber Doris, wenn du irgendeinen Zweifel hast, dann sag nein, ich würde es nur zu gut verstehen.«
Ein kurzes, lastendes Schweigen trat ein, dann sagte Doris: »Es geht schon in Ordnung, Paula. Ich hole ihn ab, bleib, solange es nötig ist. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn ich wieder eine Aufgabe habe. Meine Tage sind jetzt so leer, daß ich verrückt werden könnte.«
Paula war erleichtert und beschämt zugleich, denn sie wußte, daß sie Doris im umgekehrten Fall garantiert mit einer Ausrede abgewimmelt hätte. Andererseits – Simon war nicht Max, und Doris hatte Simon immer gemocht, was man von Paula und Max nicht behaupten konnte, wenn sie mal ganz aufrichtig war.
»Wenn es dir aber doch zuviel wird …«
»Dann sage ich Bescheid. Und jetzt los, arbeite fleißig.«
»Danke, Doris, vielen Dank. Ohne dich hätte ich dem Schulze das Feld überlassen müssen.«
»Bloß das nicht!« antwortete Doris und legte auf.
Eigentlich, dachte Paula, müßte gerade ihr Schulzes Artikel aus der Seele sprechen. Sie empfand Bewunderung für Doris, daß sie trotz ihrer verzweifelten Lage nicht auf diese primitive Polemik hereinfiel.
Paula lehnte sich zurück und seufzte befreit auf. Wie gut, eine Freundin wie Doris zu haben. Und wie wichtig in Situationen wie
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