Mordsmöwen
meine Entscheidung nicht.
Der Aufprall ist gar nicht so hart, wie ich ihn mir vorgestellt habe, sogar ziemlich weich. Jetzt ändert sich meine Flugbahn, mein Körper wird nach oben katapultiert … wie wunderbar, ich komme in den Möwenhimmel. Weit nach oben. Gleich werde ich auf einer Wolke sitzen. Aber was ist das? Mein Körper folgt wieder der Schwerkraft.
Bäh, nein, auf dieser nassen Wolke will ich nicht bleiben, das war eine verdammt unbequeme Landung, noch dazu bekomme ich keine Luft. Luft! Ich reiße die Augen auf und kämpfe mich an die Wasseroberfläche, huste und würge.
Auf dem Riesentrampolin haben die Kinder aufgehört zu springen und starren zu mir aufs Meer hinaus.
Verdammt, ich bin sogar zu blöd, mich umzubringen.
»Ach, hier bist du.« Neben mir wälzt sich Willi durchs Wasser. »Ich wollte nur eben dieses Beweisstück aus meinem Lager holen.« Sie hält mir eine blaue Mütze mit aufgenähtem gelbem Fisch vor den Schnabel. »Fünfzig Makrelen, fangfrisch, und ich sage dir, wo Knut ist.«
Ich atme tief durch. Wenigstens hat sie nichts von meinem missglückten Selbstmordversuch bemerkt. Viel wichtiger ist aber die Frage: Wo, in Albatros’ Namen, soll ich so viele Makrelen herkriegen? »Ich kann ja nicht mal eine fangen«, sage ich laut.
»Das ist dein Problem. Cooler Stunt übrigens, damit könntest du vielleicht was verdienen.« Willi winkt mir mit der Flosse zu. »Beeil dich«, sagt sie noch und taucht ab. Die Schirmmütze lässt sie auf der Wasseroberfläche treiben.
Ich schnappe mir das Käppi und setzte mich damit auf das Dach des Crêpes-Standes neben meinen schlafenden Scheff. Meine Güte, wie soll ich denn bei dem Geschnarche nachdenken? Gerade eben wollte ich mich noch umbringen – jetzt will ich auf der Stelle tot sein. Oder fünfzig Makrelen haben. Wie soll ich das schaffen? Und wo ist Knut?
Mit diesen Fragen stehe ich allein da, während mein Team zwischenzeitlich vor ganz anderen Herausforderungen steht. Suzette mit ihrem steinreichen Liebhaber, Jonathan als Fotomodell auf dem Lister Ausflugsschiff, Harry auf Reviersuche mit Grey, der sich nicht von den Spielplätzen in Wenningstedt trennen kann, Alki mit seiner Therapie auf dem Autozug, Helgi im Keitumer Museum, wo er sich in der Nähe seiner Ahnen endlich angekommen fühlt, während Balthasar auf dem Rantumer Campingplatz von Wohnwagen zu Wohnwagen zieht und Vorträge über aussterbende Möwen hält.
Willi beobachtet mich vom Hafenbecken aus. Die blöde Robbe denkt wohl, dass ich an den fünfzig Makrelen verzweifle. Tue ich auch, aber muss sie das wissen?
»Scheff … Scheff …« Jedes Rütteln ist vergeblich. Und eine Hilfe wäre er mir sowieso nicht. Wer könnte mir denn jetzt noch helfen? Mir wird bewusst, dass ich außer meiner Truppe gar keine Freunde habe. Und meine Kinder leben verstreut an der Nordseeküste, ich weiß gar nicht genau, wo. Kontakt zu meiner Familie habe ich nicht. Wozu auch? All die Jahre waren Suzette und Jonathan, Alki, Helgi, Harry und Grey, Baron Silver de Luft und sogar Balthasar meine Familie. Jetzt habe ich sie verloren, weil wir eben doch nur Freunde waren, vielleicht sogar nur eine Zweckgemeinschaft, jedenfalls keine echte Familie.
Denn muss man als echte Familie in solchen Momenten nicht zusammenhalten? Einander helfen? Mein Bruder fällt mir ein. Genau genommen ist er mir sogar was schuldig. Er hat sich all die Jahre von unseren Eltern durchfüttern lassen. Ich würde ihm auch helfen, wenn er in der Klemme wäre und ich das könnte. Für meine Mutter wäre ich im Ernstfall sowieso da, egal, wie wenig sie mich geliebt hat. Mein Entschluss reift in mir heran. Ich fliege nach Hallig Hooge.
SIEBEN
Ein grünes Eiland im Dunkelblau des Wassers, ein schmales Oval, von einem kaum nennenswerten, hellen Sandstreifen umgürtelt. Mehr Wasserpriele als Wege durchkreuzen die Insel. Die wenigen Häuser stehen wie vom Himmel gefallen in weitem Abstand zueinander auf einer der zehn Warften, die aus meiner Perspektive wie bewohnte Maulwurfshügel aussehen. Mal ist es ein einziges kleines Gebäude, mal, wie auf der Hauptwarft, eine Ansammlung von einem guten Dutzend Häuser. Hier ist die Welt noch in Ordnung, hier gibt es mehr Möwen als Menschen. Aber nicht nur deshalb empfinde ich es als eine andere Welt – ich kann es nicht erklären, man spürt es, weil man sich wie verzaubert fühlt, sobald man über der Insel in den Sinkflug geht. Hier gibt es keine Revierkämpfe, und ja, auch keine
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