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Mordsmöwen

Mordsmöwen

Titel: Mordsmöwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sine Beerwald
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meinem Glück – hoffentlich.
    Mit ihren kugelrunden pechschwarzen Augen fixiert sie den Fisch. Mir läuft das Wasser im Schnabel zusammen. Ich mache mich startklar. Jetzt entscheiden Sekundenbruchteile. Mit zugegebenermaßen niedlich-hinreißendem Blick löst Willi den menschlichen Fütterungsreflex aus. Die Hand des Jungen zuckt.
    Diesen Blick muss ich mir unbedingt auch antrainieren, denke ich noch und stoße mich von meinem Pfeiler ab. Ich schieße knapp über Willis Kopf hinweg – und knalle mit offenem Schnabel gegen den dicken Hafenpfeiler in meinem persönlichen Bermudadreieck. Als ich mich umblicke, hält der Junge den Hering immer noch in der Hand.
    Alle Aufmerksamkeit liegt jetzt auf dem bemitleidenswertesten, unter größtem Hunger leidenden, ärmsten Tier auf der ganzen großen weiten Welt – auf Willi. Die posiert nämlich mit lang gerecktem Hals, und der Junge wartet, bis auch jeder Anwesende mindestens sein Handy gezückt hat und ein Foto schießen konnte. Jetzt lässt er den Fisch fallen, und der landet direkt in Willis Schlund. Nicht mal schlucken muss dieses bequeme Vieh! Willi wartet noch kurz, ob es vielleicht Nachschub gibt, und als das erkennbar nicht der Fall ist, taucht sie wieder ab.
    Ich könnte mich mit geschlossenen Flügeln vom Leuchtturm stürzen.
    Während ich, im Hafenbecken treibend, ernsthaft darüber nachdenke und mich nur der Gedanke an Suzette davon abhält, taucht Willi neben mir auf.
    »Du suchst doch euren Knut, oder?«
    »Lass mich in Ruhe.« Am liebsten würde ich ihr jetzt in den Schlund klettern und den Hering suchen.
    »Ich dachte nur, es würde dich vielleicht interessieren, wo er ist. Ich könnte es dir sagen …«
    Ich schlage mit den Flügeln aufs Wasser, dass es Wellen gibt. »Was? Und damit kommst du erst jetzt an? Dann spuck es aus!«
    »Na, na, na. Spricht man so mit einer Dame? Ich habe Zeit, wie du gemerkt hast. Ich dachte mir nur, ich sollte so langsam an meinen Winterspeck denken. Fünfzig Makrelen im Austausch gegen die Information, wo ihr euren Dealer findet.«
    »Tot oder lebendig?«
    »Die Makrelen? Fangfrisch, bitte. Mir stehen die Heringe nach der Saison echt bis zum Hals.«
    Ja, denke ich. Und genau dort würde ich dich erwürgen, wenn ich es könnte.
    »Ach, komm, verarschen kann ich mich selbst«, entgegne ich. »Du hast doch keine Ahnung, was mit Knut passiert ist.« Ich drehe mich weg und schwimme demonstrativ in die andere Richtung. Richtung Leuchtturm. Als ich mich wieder umschaue, ist Willi abgetaucht.
    Hätte ich je gedacht, dass mein Leben so endet? Das frage ich mich, als ich auf dem Dach des Leuchtturms sitze. Das Meer ist ungewöhnlich ruhig heute, träge glitzernd liegt es vor mir in der Sonne. Amrum und Föhr erscheinen zum Greifen nahe, ich kann sogar die Strandkörbe wie Tupfen auf dem Kniepsand erkennen. Dahinter liegen die Halligen, Inseln, auf denen manchmal nur ein einziges Haus steht, und die zweitgrößte unter ihnen, Hallig Hooge, ist meine Heimat.
    Hätte ich dem Ruf meiner Tante folgen sollen? Meinen Pflichtteil einfordern? Aber wozu? Um in einem von Wattwürmern wimmelnden Brutgebiet ein Leben zu führen, das ich nicht will? Die Schreie der am Strand spielenden Kinder dringen gedämpft zu mir hinauf, wie immer gehen die lautesten Jauchzer von der großen Trampolinfläche aus, wo wir früher nachts manchmal Wetthüpfen gemacht haben.
    Alles ist zum Greifen nah, der Ort, die Gedanken, und trotzdem ist alles unendlich weit weg. Vergangen. Wie meine Liebe zu Suzette. Sie fand ein Ende, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Ich habe nichts mehr, womit ich um sie kämpfen könnte. Nichts außer mir selbst. Ich bin ein Niemand geworden. Ich bin nicht mal mehr ein Späher.
    Ich schaue hinunter auf den Strand und den geschlossenen Crêpes-Stand, wo mein Scheff seinen Rausch ausschläft. Er wird nicht mal mitbekommen, dass sich auch sein letztes Teammitglied von ihm verabschiedet, für immer. Will ich mich überhaupt von jemandem verabschieden? Würde ich wollen, dass mich jemand aufhält?
    Nein. Ich presse meine Flügel eng an den Körper, schließe die Augen, kneife sie fest zu, beuge mich nach vorn – und lasse mich fallen. Ich spüre den Wind. Dieses Gefühl will ich als Letztes in Erinnerung behalten. Es ist schön. Der Wind, der mich mein ganzes Leben getragen hat und mich jetzt wieder trägt. Ja, er drängt sich unter meine Flügel, aber ich lasse nicht zu, dass er sie ausbreitet. Gleich ist es vorbei, und ich bereue

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