Mordsmöwen
des Fangvolumens diesen Monat eine zusätzliche Gewinnbeteiligung von zehn Makrelen für jeden Mitarbeiter gibt.«
Das Möwenweibchen strahlt über den ganzen Schnabel und verabschiedet sich mit den Worten: »Oh Aaron, du bist nicht nur ein ganz toller Vater für unsere Küken, du bist auch ein so wunderbarer Chef!«
Mir dreht es bald den Magen um, aber es steht mir nicht zu, mich in die Beziehung meines Bruders einzumischen. Ich bin schließlich wegen eines anderen Anliegens hier.
»Aaron, ich möchte dich um deine Hilfe bitten. Ich benötige dringend fünfzig Makrelen.«
»Und was bekomme ich dafür?«
»Ich … ich kann dir nichts dafür geben – zumindest im Moment nicht. Aber ich würde dir auch helfen, als Bruder. Jederzeit.«
Nun lacht Aaron aus vollem Hals. »Helfen? Du mir? Bist du gekommen, um mir Witze zu erzählen?«
»Nein, es ist mir bitterernst. Um nicht zu sagen: todernst. Es ist überlebenswichtig, bitte.«
»Es tut mir leid, ich habe nichts zu verschenken. Allein jeder Kormoran hier verdient siebenhundert Gramm Fisch am Tag, weit über Tarif, das muss man erst mal reinholen – aber ich lasse mir nichts nachsagen. Ich trage Verantwortung für meine Firma und das Wohlergehen meiner Mitarbeiter. Was bildest du dir eigentlich ein, nach zehn Jahren plötzlich mit so einer Forderung hier anzukommen? Wenn dein kriminelles Leben zu nichts geführt hat, muss ich jetzt nicht dafür geradestehen.«
»Ich habe keine Forderung gestellt, nur eine Bitte geäußert. Aber wenn du mir nicht mit fünfzig Makrelen aushelfen kannst oder willst, bleibt mir nichts anderes übrig, als mein schlichtes Recht einzufordern und mich mit dir ums Erbe zu streiten.«
»Versuch es doch. Ich habe für so einen Quatsch jetzt keine Zeit. Ich habe zu tun, wie du siehst. Schönen Tag noch und guten Heimflug.«
»Ahoi«, höre ich jemanden rufen, und eine Möwe kommt auf mich zugehüpft, kaum dass mein Bruder anderweitig beschäftigt ist.
Meine Tante Emma!
»Wie schön, dich zu sehen.« Sie legt einen Flügel über mich. »Hat dich meine Feder erreicht? Ich dachte schon, du würdest gar nicht kommen. Wie geht’s dir? Du siehst traurig aus. Nimmt dich der Tod deines Vaters so mit?«
Trotz meines aufgewühlten Zustands muss ich in mich hineinlächeln. Meine Tante Emma. So war sie schon immer, und sie ist wirklich besorgt, aber mir ist im Moment nicht nach Fragenbeantworten. »Weißt du, wo meine Mutter ist?« Ich schaue mich unter den arbeitenden Möwen um, weil ich sie immer noch nicht entdeckt habe.
»Oh, die ist schon heute Mittag heimgeflogen. Sie fühlt sich in letzter Zeit öfter schlecht. Du bist auch so dünn! Magst du etwas abhaben?« Sie holt eine Makrele unter ihrem anderen Flügel hervor. »Ich hatte zu viel zum Mittagessen heute. Ist noch von meiner Portion übrig.«
Dankbar, oder besser gesagt: gierig sperre ich den Schnabel auf, und sie wirft mir lächelnd die Makrele zu. Das ist fast so wie in früheren Zeiten, als sie mir Wattwürmer ans Nest gebracht hat, weil mein Bruder schon von Anfang an mehr zu fressen bekam als ich.
»Tante Emma, kannst du mir eventuell fünfzig Makrelen geben? Es ist ein echter Notfall.«
»Fünfzig Makrelen? Meine Güte! Ich würde dir ja gern helfen, aber so viel habe ich nicht. Hm, und ich würde auch nur einen Vorschuss von zehn Makrelen bekommen. Was können wir denn da tun? Und dein Bruder, der Geizhals, will dir nicht helfen?«
»Nein.«
»Das war so klar, der kriegt den Schnabel nicht voll. Als Boss ist er wirklich in Ordnung, die Arbeitsbedingungen sind fair, aber er ist ein knallharter Geschäftsmann ohne jeglichen Familiensinn.«
»Was ist mit meiner Mutter? Ist sie krank?«, frage ich, während ich diese zweite Absage verdauen muss.
»Das weiß keiner so genau. Aber man kann zuschauen, wie sie von Tag zu Tag abnimmt, obwohl sie eigentlich normal isst. Sie hat kaum mehr Kraft zu arbeiten. Ich würde sie eigentlich ganz gern davon überzeugen, sich in Pflege zu begeben, bevor es zu spät ist. Aber auf mich will sie ja nicht hören. Schau dir ihren Zustand mal an, vielleicht können wir sie gemeinsam dazu bringen.«
Wir fliegen meinem früheren Zuhause entgegen, dem Ort meiner Kindheit. Schon von Weitem sehe ich unseren Nistplatz, den kleinen, schon damals stillgelegten Schornstein des ehemaligen Backhauses, das heute als Lagerraum genutzt wird. Von den Wänden bröckelt der Putz, und von den ehemals rot gestrichenen Fensterläden ist die Farbe abgeplatzt, aber
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