Mordsmöwen
geworden. Und du siehst ziemlich angestrengt aus.«
»Ich habe gut eineinhalb Stunden Flug hinter mir.« Und einen missglückten Selbstmordversuch, denke ich im Stillen.
»Und was führt dich her?«
»Ich habe eine Feder von unserer Tante bekommen, dass unser Vater in ein Triebwerk geraten ist.«
»Ah, daher weht der Wind. Dir geht es also ums Erbe.«
»Nein. Ich wollte wissen, wie es hier in meiner alten Heimat aussieht, und unsere Mutter besuchen.«
»Hättest schon längst eine Trauerfeder schicken können.«
»Mutter hat es ja nicht mal für nötig befunden, mich selbst über den Tod unseres Vaters zu informieren.«
»Wir wussten ja nicht, wo du dich rumtreibst.«
»Ach? Tante Emma kannte meine Adresse ganz offenkundig, und ja, es stimmt, ich bin nicht nur deshalb hier, sondern auch, weil ich deine Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit benötige.«
»Ich habe wenig Zeit, ich fahre gerade zu meiner Herings- und Markrelenfabrik, um dort nach dem Rechten zu sehen. Es gibt Probleme bei der Weiterverarbeitung.«
Makrelenfabrik … Mir ist, als hätte mir der Himmel ein Geschenk gemacht. Nur die Probleme klingen weniger gut. »Du hast eine Fabrik?«
»Seit ein paar Jahren schon, nichts Besonderes, ein netter Nebenerwerb zu meinen Hauptanteilen an den Austernbänken. Ich bin dort Großaktionär und sitze im Aufsichtsrat. Die Herings- und Makrelenfabrik ist nur ein kleiner mittelständischer Betrieb mit rund einhundert Mitarbeitern, draußen auf dem Japsand, kannst du dir gerne mal anschauen. Ist ein reines Saisongeschäft. Im Frühjahr sind es hauptsächlich die Heringe, später im Sommer ziehen dann die Makrelenschwärme vorbei, und wir kommen mit der Fangarbeit kaum nach. Unsere Mutter arbeitet auch dort, dann kannst du gleich mit ihr reden.«
Kleiner Betrieb mit einhundert Mitarbeitern? Wir fliegen zu einer großen Sandbank, die westlich vor Hooge liegt und die auch bei Flut nicht überspült wird. Und jetzt sehe ich auch, was mein Bruder unter »Weiterverarbeitungsproblemen« versteht: Kürzlich muss ein riesiger Schwarm Makrelen vorbeigekommen sein. Ein Großteil davon stapelt sich, teilweise noch zuckend, auf der großen Sandbank, sodass von dieser selbst kaum mehr etwas zu sehen ist, während Aarons Mitarbeiter versuchen, der Lage Herr zu werden.
»Meine Güte, bin ich eigentlich nur von Dilettanten umgeben?«, schreit mein Bruder, und ich fühle mich schmerzhaft an meinen Scheff erinnert. »Wenn ihr schon so viele Fische fangt, müsst ihr doch auch wissen, wohin damit. Auslagern auf die nächste Sandbank, aber zack, zack! Wilhelm, wie sieht es mit der Salzproduktion aus?«
Ein ziemlich alter Seehund hebt den Kopf und zeigt auf die zahlreichen flachen Pastikwannen, bewacht von einer Kolonie von Seehunden. Plastikwannen, in denen normalerweise der Fang von Schiffen an Land gebracht wird. Jetzt befindet sich darin Meerwasser, unter dem sich durch Verdunstung bereits eine ordentliche Schicht Salz abzeichnet.
»Alles im Griff, Boss, nur bei der Einlagerung gibt es Probleme.«
Ich fasse es nicht, vor meinem Bruder kuschen sogar die Seehunde. Und nicht nur die, auch die Kormorane. Die riesigen schwarzen Vögel sind anscheinend für die Holzfässer zuständig, aus denen die Makrelen geradezu herausquellen. Unzählige Möwen fliegen nun mit Makrelen im Schnabel zur angewiesenen Sandbank.
Ein hübsches Möwenweibchen hingegen kommt näher. Sie sieht natürlich nicht so gut aus wie meine Suzette, dabei scheint sie noch einige Jahre jünger zu sein, und sie fällt vollends aus meinem Beuteschema, als sie sich mit zärtlichen Gurrlauten an meinen Bruder schmiegt.
»Darf ich vorstellen, meine Saisonpartnerin. Sie hat dieses Jahr schon fünf ganz phantastische Küken ausgebrütet. So viele Eier hat noch kein Weibchen vor ihr gelegt.«
Es ist ja allein schon eine Frechheit, sie offen als Saisonpartnerin zu bezeichnen, aber weshalb ist er dann nach dem Schlüpfen der Kinder immer noch mit ihr zusammen? Will er ihr Hoffnungen auf eine Dauerbrutpartnerschaft machen, solange er nicht weiß, ob sich im nächsten Jahr was Besseres findet? Ich habe den Eindruck, dass mein Bruder nicht mal ihren Namen weiß.
Er gibt seiner Freundin einen Klaps auf den Hintern. »Komm, mein Spätzchen, mach dich wieder an die Arbeit, es gibt viel zu tun. Und sag meiner Sekretärin, sie möchte doch bitte später noch zum Diktat in meinem Büro vorbeikommen. Ich möchte Federn an alle meine Mitarbeiter verteilen, dass es angesichts
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