Mordsmöwen
Kriminalität. Dafür jede Menge Ruhe und Abgeschiedenheit.
Mit der Ruhe ist es allerdings vorbei, wenn es mal wieder »Landunter« heißt. Wenn eine Sturmflut kommt, müssen die Jungvögel eingesammelt und alle Nahrungsvorräte auf eine der Warften gebracht werden. Glücklich schätzen dürfen sich dann die wenigen Vögel, die wie meine Familie einen wertvollen Nistplatz auf einer Warft besitzen und nicht bei jeder Sturmflut das Nest verlieren.
Für einige Stunden, manchmal auch Tage, wird eine Warft dann zu einer Insel auf der Insel. Für uns Hooger Möwen ist so eine Sturmflut angesichts der Gewalt des Meeres zwar Respekt einflößend, aber auch so etwas wie Routine geworden. Während die Weibchen auf die Jungmöwen aufpassen, gehen wir Männer meist noch mal raus, um Hab und Gut zu retten, auch das des Nachbarn.
Lachmöwe, Brandseeschwalbe, Heringsmöwe, Kormorane – hier halten alle zusammen. Schließlich könnte es beim nächsten Mal das eigene Nest treffen. Auch die gut einhundert menschlichen Bewohner holen bei drohendem Landunter ihre Kühe, Schafe, Pferde und Traktoren nahe ans Haus, alle rücken zusammen.
Ich gehe tiefer, überfliege den Fähranleger, wo bald das nächste Schiff ankommen soll, und überlege kurz, ob ich mir nach dem anstrengenden Flug nicht doch ein Taxi nehmen soll. Nein, nicht so eines, wie Sie jetzt denken. Hier am Hafen warten gezähmte Ferraris vor gelben Kutschen, und so eine bequeme Fahrt auf dem Kutschbock hat schon was. Einspänner sind neben dem Fahrrad das Hauptfortbewegungsmittel auf der Hallig, letzteres aber natürlich nicht für uns.
Es hat sich auf den ersten Blick nichts verändert, seit ich vor zehn Jahren hier weggegangen bin. Selbst Kutscher Hansi nicht. In aller Gemütsruhe wartet er am Hafen auf die Tagestouristen, um sie stundenlang über die Insel zu fahren. Mit ihm konnte ich früher immer einen prima Schnack halten, zumindest kann er gut zuhören und weiß, ebenso wie seine Kollegen, alles über die Insel. Er würde nie die Hand gegen uns erheben und uns verscheuchen.
Vielleicht habe ich Hallig Hooge nur deshalb so schlecht in Erinnerung, weil ich damals noch jung war, die Welt sehen und was erleben wollte. Vielleicht wird es wirklich Zeit für eine Rückkehr. Allein oder mit Suzette, wenn es für unsere Beziehung noch einen Funken Hoffnung gibt.
Hier zu brüten ist wie im Paradies, sagen die Möwen von Hallig Hooge, und das stimmt schon. Die Menschen haben sogar riesige Wiesenflächen eigens für uns umzäunt, damit uns kein unbedachter Fußtritt aufschreckt. Was für ein Luxus. Nur für Balthasar wäre das Leben hier nix, die Tageszeitung kommt frühestens um zwölf Uhr mit der ersten Fähre – sofern die nicht wegen Sturm ausfällt.
Und im April und Mai bucht man als Hooger Möwe besser seinen Urlaub – dann nämlich wird die Insel regelmäßig von einer Horde Ringelgänse heimgesucht. Das finden Sie nicht besonders schlimm? Ich muss mich wohl deutlicher ausdrücken: Ich meine eine Horde von zehntausend Gänsen, die auf ihrer Flugroute in die Brutgebiete regelmäßig auf Hooge Station machen, um sich mit sattgrünem Gras die Wampe vollzuschlagen. Zehntausend Gänse auf einer Insel, die Sie als Mensch in nicht mal drei Stunden zu Fuß umrundet haben. Das finden sie immer noch nicht besonders dramatisch? Sie würden sogar extra für dieses Naturschauspiel hierher pilgern? Na gut, Sie müssen ja auch nicht kniehoch durch Gänsekot waten!
Ich entscheide mich jedenfalls gegen die Taxifahrt, sonst werde ich von meiner Familie gleich schräg angeschaut und gefragt, ob ich keine Flügel am Körper habe. Wobei mein Bruder wegen jeder Kleinigkeit mit dem Taxi fährt.
Sag ich es nicht? Da unten fährt er gerade auf dem Kutschendach an der Lorenzwarft vorbei. Ich habe ihn sofort wiedererkannt. Wir stammen ja schließlich aus einem Gelege, und meine Mutter behauptet zwar, dass er als Erster seine Schale durchbrochen hätte, allerdings glaube ich, dass sie das nur behauptet, weil er ihr Lieblingssohn ist. Ganz schön dick ist er geworden, aber das ist so ziemlich das Einzige, was uns unterscheidet. Optisch. Vom Charakter will ich hingegen nicht anfangen.
»Hallo, Aaron«, rufe ich ihm zu, ehe ich neben ihm auf der Kutsche lande.
»Na, sieh einer an, der verlorene Sohn.« Er hebt den Flügel. »Ahoi, Ahoi!« Diesen blöden Scherz hat er schon als Jungmöwe gemacht.
»Ich dachte, aus diesem Alter wären wir raus.«
»Stimmt, du bist ganz schön alt
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