Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
hatte sie ihre Eltern verloren. Eine sehr geachtete, wohlhabende Familie, bei der ihre Großmutter arbeitete, nahm sich der kleinen Henriette an und gab ihr eine Erziehung, die über ihren schlichten Geburtsstand hinausging. Sie war damals von einer Familie zur anderen gekommen und dabei stets mehr wie eine Tochter denn eine Dienstbotin behandelt worden. Nachdem sie als Kindermädchen in einer jüdischen Bankiersfamilie einige Zeit verbracht hatte und auch dort dem Familienkreis näherstand, als es in der Regel bei Kindermädchen der Fall ist, war sie zu einer alten, unverheirateten Dame nach Charlottenburg gezogen. Diese kannte Henriette noch von den Eltern. Die bejahrte Dame hatte einen hervorragenden Ruf und kam aus einer angesehenenFamilie. Schon die Namen der mit der Dame bekannten Familien sowie das Ansehen, das diese in Berlin genossen, war für Henriette eine Art Bürgschaft, sodass die Polizei keinen Anlass hatte, sie mit lästigen Fragen und einer strengen Beobachtung zu verfolgen.
Ihre Person und ihre Herkunft waren ja bekannt, und sie machte keinen Hehl daraus. Nur die Quelle ihres Reichtums war unbekannt; da sich aber nirgends die Spur eines großen Diebstahls oder einer Betrügerei zeigte, da niemand gegen sie Klage erhob und da nicht einmal Verdächtigungen einliefen, war kein Grund vorhanden, gegen sie einzuschreiten, nur weil sie mehr ausgab, als sie eingenommen habe, was man vernünftigerweise annehmen durfte.
War die Polizei auch nicht verpflichtet zu glauben, dass sie einen reichen Brasilianer zum Bräutigam habe, so war sie doch auch nicht berechtigt, es zu bezweifeln.
Zudem, wäre sie eine Abenteuerin, was könnte der Zweck ihres Auftretens sein? – Sie drängte sich nicht in die Gesellschaft reicher und vornehmer Familien, wie Personen dieses Schlags es tun, um Gelegenheit für Diebstähle und Betrügereien zu finden, sie lebte eigentlich ganz für sich. Auch die Leute, mit denen sie sich ansonsten umgab, waren nicht gefährlich. Ihr Diener, ein unverdächtiger Mann, hatte früher bei den achtbarsten Herrschaften und zu deren Zufriedenheit gearbeitet. Ihre Gesellschafterin war eine gebildete Dame, die Tochter eines ehemaligen höheren Justizbeamten, der nun Universitätslehrer und ein namhafter Schriftsteller war.
Und wen hätte sie auch betrügen sollen und worum? Dummköpfe um Geld und Güter? Sie sagte ja selbst, dass sie persönlich kein Vermögen habe, sondern alles der Großmut ihres Bräutigams verdanke. Mit ihren Reizen schien sie niemanden umgarnen zu wollen, da sie sich als Braut eines angesehenen Fremden ausgab, der jeden Augenblick kommen und sie abholen konnte. Außerdem traf sie auch nicht der leiseste Verdacht eines unsittlichen Lebenswandels. Ihr ganzesAuftreten hatte vielmehr etwas Bescheidenes. Während sie ihre Gesellschafterin mit Ketten und Federn schmückte, ging sie verhältnismäßig einfach gekleidet, wenngleich die Stoffe kostbar waren.
Was sie kaufte, bezahlte sie bar und für hohe Preise. Man kann nach den späteren Ermittlungen eher annehmen, dass sie dauernd betrogen wurde. Sie nahm, was ihr gefiel, sie fragte wenig nach dem Preis, und die Verkäufer wussten den Glanz des Reichtums, den sie um sich verbreitete, und die Wahrnehmung, dass das Geld leicht in ihrer Hand saß, zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Sie war auch außerordentlich wohltätig. Die Armen, die ihre Tür belagerten, gingen nie mit leeren Händen fort. Sie gab nicht Groschen oder Taler, sondern ihre Almosen gingen bis in die Hunderte. So rettete sie einen verarmten Edelmann durch eine solche außerordentliche Gabe. Erst als der Ruf ihrer Großmut sich in der Stadt verbreitete und die Hilfsbedürftigen von nah und fern sich scharenweise zu ihr drängten, sah sie sich zu ernsteren Prüfungen der Anliegen genötigt.
Sie schämte sich ihrer armen Verwandten nicht; auch vor deren Türen hielt oft ihr Wagen. Sie ging zu ihnen hinein, häufiger aber ließ sie diese aus dem Haus kommen und unterhielt sich freundlich mit ihnen von ihrem Wagensitz aus. Würde eine Glücksritterin sich so öffentlich als Verwandte armer Leute aus den niedrigsten Ständen vor aller Welt gezeigt haben?
All dies sprach für sie. Schon gegen zwei Jahre dauerte diese Geschichte, und der Glanz ihrer Erscheinung hatte sich nicht gemindert. Warum will man die einzige gegebene Erklärung nicht annehmen? Die ihr Wohlgesinnten sprachen die Besorgnis aus: Wenn der brasilianische Graf nur nicht das arme Mädchen sitzen lässt! Die ihr
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