Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
wirklich grauslich sein.
Mir scheint aber, dass sich vielleicht doch eine grobe Untersuchung und Aufteilung des Tatorts vornehmen lässt. Aber eins ist auch klar: So wie geplant – rechtsmedizinische Untersuchung durch mich, Dokumentation durch Toralf –, kann der Einsatz nicht ablaufen. Der Fall kann, wenn überhaupt, nur durch rechtsmedizinische und kriminalistische Zusammenarbeit aufgeklärt werden. Folglich müssen wir uns arbeitstechnisch trennen. Aber wie soll bei dieser Menge an Leichen die Dokumentation erfolgen?
Toralf verbringt den Rest des Nachmittags damit, den Tatort sorgfältig fotografisch zu dokumentieren. Ich versuche, einevorläufige Ordnung in die Leichenteile zu bringen und bereits jetzt alles Interessante auf Video aufzunehmen. Wer weiß, was morgen kommt?
Beim Öffnen der Kühlboxen und Hervorziehen einer Bahre (mit der linken Hand, in der rechten läuft ja die Videokamera) ziehe ich zu weit, die Bahre fällt nach unten, und die Leichenteile fallen mir in den Schoß und dann auf die Füße. Nicht zu viele Sachen gleichzeitig machen, hat man mir ja schon öfter gesagt. Aber hier stört es mich nicht so besonders, der allgegenwärtige Formalingestank macht offensichtlich alles steril, auch den Geist.
Deutsche Ordnung im Leichenmeer
Der Verdacht beziehungsweise die Hoffnung verstärkt sich, dass das Arbeitspensum vielleicht doch geringer ausfällt und in der knappen Zeit noch zu schaffen ist. Dazu müssen wir nur herausfinden, welche Leichen zu Lehrzwecken als Anatomieleichen hier liegen. Diese brauchen wir dann nicht weiter zu untersuchen. Die Polizisten werden also gebeten, die Leichen und Leichenteile aus den Becken zu schaffen und auf die Rollwagen zu legen. Nun hält man es vor Formalingestank allerdings wirklich nicht mehr aus.
Die lieben Kollegen von der einheimischen Polizei, die sich offensichtlich für den Empfang der beiden Experten aus dem fernen Deutschland extra schick gemacht hatten, erledigten die Arbeit, um die sie nicht zu beneiden waren, mit Bravour.
Am Abend sind wir beim Botschaftskanzler eingeladen. Bayerische Speisen, Jever-Bier, ein Obstler: Das wird der letzte Alkohol für die nächsten Tage. (Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas noch gibt: Tatsächlich gibt es selbst im Hotel keinen Alkohol.)
Wir schaffen es, dem Kanzler sein Diktiergerät abzuschwatzen. Zudem will er dafür sorgen, dass alles Diktierte von einerSekretärin der Botschaft geschrieben wird. Es sieht schon besser aus. So können wir doch sinnvoll arbeiten.
Die Nacht ist kurz, gegen halb neun Uhr morgens werden wir von der Polizei abgeholt. Auf einem anderen Weg – die Anfahrtswege wechseln von nun an täglich – geht es zur Universität.
Toralf beginnt mit seinen Befragungen. Er ist nicht zu beneiden. Nach minutenlangem Gerede (Herr Ali Soori übersetzt) stellt sich immer wieder heraus, das der jeweils Betreffende alles nur vom Hörensagen weiß, womöglich noch über mehrere Stationen. Immer wenn ich an Toralfs Menschenauflauf vorbeikomme, merke ich, wie schnell er sich in die arabische Welt einarbeitet. Die Frage, woher die Erkenntnisse denn stammen, stellt er immer früher – am Ende fast immer als Erstes. Was er beim BKA gelernt hat, kann er hier in Minutenfrist aufgeben und eigene Vernehmungstheorien entwickeln, denke ich. Er tut mir fast leid, wenn ich sehe, wie seine Kladde Seite um Seite per Hand beschrieben wird.
Da habe ich es eigentlich einfacher. Die Anatomieleichen sind fürchterlich zugerichtet, Präparation kann man es kaum nennen, aber ich muss ja nur eine Bestandsaufnahme machen und kann (muss) meinen eigenen Augen glauben – ob ich will oder nicht…
Falls das Video einmal geschnitten werden sollte, muss der Titel ›Körperwelten, der Antifilm‹ heißen, schießt es mir durch den Kopf.
Man hält es vor Formalingestank wirklich kaum noch aus. Die Augen brennen, Tränen kullern, die Brille beschlägt.
Die einheimischen Beamten sind erstaunlich schnell. Jetzt, wo sie zum Handeln angeleitet werden, klappt plötzlich einiges mehr. Offensichtlich sind sie vor vier Wochen, als ihr Einsatz hier erfolgte, durch das Bild, das sich ihnen bot, einfach völlig überfordert gewesen. In meinem mittlerweile fast formalinfixierten Hirn stelle ich mir vor, wie sie alle schreiend hinausgerannt sind, als hätten sie Scheijtan persönlich getroffen.Nein, so war es sicherlich nicht, aber Tatortarbeit oder Ähnliches, zumindest eine Bestandsaufnahme, war offensichtlich nicht
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