Mordsschock (German Edition)
Schneiderin nach Hause gehen lassen, weil keine Fluchtgefahr bestand.
„Typisch, dass die mal wieder im Dunkeln tappen! Warum soll die Frau nicht in der Lage sein, ihrem Erzfeind ein Messer ins Herz zu stechen? Nur weil sie alt ist? Sie hatte Grund genug“, philosophierte Herbie.
Gundula pflichtete ihm bei: „Ich denke auch, die Alte war’s! Wenn die nicht ganz richtig im Oberstübchen tickt, hatte sie eben einen totalen Aussetzer, als sie auf Prange mit dem Messer losging.“
„Nicht jeder, der nicht ganz richtig im Oberstübchen ist, wie du es formulierst, wird automatisch zum Mörder“, orakelte Jelzick vielsagend.
Gundula ignorierte seinen Spott und nörgelte: „Parksünder kriegen deine Bullen dran, aber Mörder setzen sie auf freien Fuß.“ Gundula war wütend, weil sie gestern ein Strafticket kassiert hatte, als sie im Halteverbot parkte.
„Was ist mit Schottmaier? Der profitiert von Pranges Tod“, warf ich in die Diskussion ein.
„Dieses grüne Bürschchen? Nie! Ich sag’s euch, die Alte war es!“ Gundula fächelte sich mit ihren rotlackierten Krallen Luft zu. Ein Schwall ihres schweren Parfüms erfasste uns.
Überlegen kippelte ich auf meinem Stuhl nach hinten. „Ihr vergesst einen wesentlichen Punkt! Die Alte ist eine ausgemachte Schlampe. Die hätte nie feinsäuberlich ihre Fingerabdrücke entfernt.“ In ihrer Rummelbude hätte die Polizei garantiert Pranges Kleidungsreste gefunden.
Jelzick zerstörte meine kriminalistische Amateurthese. „Mörder verändern sich in diesem Augenblick oft ins genaue Gegenteil ihrer sonstigen Persönlichkeit. Harmlose Träumer werden zu eiskalten Killern. Hinterher können sie sich manchmal selber nicht mehr an diese Mutation erinnern. Vor allem natürlich, wenn sie wie diese Frau ein bisschen gaga sind.“ Unser Polizeireporter musste es wissen, verfolgte er auch in seiner Freizeit mit brennender Leidenschaft berühmte Kriminalfälle und las Biografien von Verbrechern.
Wagner, der sich bisher aus dem Geplänkel rausgehalten hatte, wandte sich an mich: „Sie können jetzt Ihre Verbindungen zur Unterwelt spielen lassen.“
Begriffsstutzig guckte ich ihn an. „Wie bitte?“
Gutgelaunt, der Mordfall ‚Prange‘ bescherte uns kurzzeitig bessere Verkaufszahlen und ein steigendes Anzeigenvolumen, sortierte er zunächst einige Papiere, ehe er mich über sein Vorhaben aufklärte. „Sie sind mit dieser Schneiderin bekannt. Also statten Sie ihr mal einen Besuch ab und machen ein Interview!“
Plumps! Ich purzelte von meiner rosa Wolke direkt auf den Boden.
Was, wenn die Schneiderin die Mörderin war? Und ich begab mich direkt in ihre Hände? Schreckte sie vor einer zweiten Tat nicht zurück? Einen Moment lang dachte ich an mein grässliches Abenteuer in Herbeck und die Todesängste, die ich damals im Eiskeller ausgestanden hatte.
Ach, Unsinn! Was sollte die Alte damit zu tun haben? Ihre bucklige Statur hätte sie wohl kaum so raffiniert kaschieren können. Außerdem wäre ihr nach hundert Metern Dauerlauf die Puste ausgegangen. Ein Motiv besaß sie auch nur im speziellen Fall ‚Prange‘.
Ich zwang mich, gerade zu stehen, die Schultern zu straffen und tief durchzuatmen. Das half in solchen Situationen.
Die Alte öffnete die Tür. Die Zeit bei der Polizei war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Ihr hexenhaftes Wesen existierte nicht mehr. Vor mir stand ein gebeugtes Mütterchen. In einen verwaschenen Umhang gehüllt, stützte sie sich auf einen knotigen Stock und guckte mich aus trüben Augen müde an.
Ich verdrängte rasch das in mir aufwallende Mitleid und erklärte meinen Besuch. Ich erwartete, dass sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen würde, aber sie bat mich herein.
Auf dem Fußboden türmte sich mehr Gerümpel als bei meinem ersten Besuch. Mit zugehaltener Nase kletterte ich über Pappkartons und Konservendosenstapel. Es stank nach verwesenden Essensresten.
Wir nahmen auf zwei wackeligen Stühlen Platz, die bei jeder überflüssigen Bewegung drohten auseinanderzubrechen. Die lockenden Handbewegungen, die mich so an die Knusperhexe aus ‚Hänsel und Gretel‘ erinnert hatten, fehlten heute. Die Alte kauerte teilnahmslos mit eingefallenem Gesicht auf ihrem Stuhl, die Arme baumelten schlaff an der Seite. Leerer Blick.
Ich fragte sie, ob ihr an dem Tag, als Prange ermordet wurde, etwas Besonderes aufgefallen sei.
Automatisch antwortete sie müde: „Habe denen gesagt, dass ich nichts gesehen habe.“ Mit ‚denen‘ meinte sie
Weitere Kostenlose Bücher