Mordsschock (German Edition)
Stiche sind keine Notwehr mehr. Und du hattest im Fraktionsbüro nichts zu tun. Es sieht so aus, als wärest du dort extra hingegangen mit dem Ziel, Ehrhardt zu erledigen. Oder wie willst du das Gegenteil beweisen?“
„Und die vier anderen? Sie sahen mich mit Ehrhardt verschwinden.“
„Gehören alle zu von Stettens und Ehrhardts Clique. Im Zweifelsfall sagen sie gegen dich aus. Sie haben ja bemerkt, dass du auf der Lauer gelegen hast. Deine Absichten werden sie eindeutig interpretieren. Keiner von denen möchte Ehrhardt nach seinem Tode was anhängen und damit Schande über die Partei bringen.“
„Ich bin nicht irre!“ Mir laufen die Tränen runter. Meine Nerven spielen Kettenkarussell. Ich fühle mich wie im Käfig. Springe hoch, schmeiße den Stuhl um und renne im Zimmer umher.
Ken packt mich am Arm und schleift mich zum Sofa. „Beruhige dich! Es ist alles nicht so schlimm! Nichts wird geschehen! Die vier Kleinen übernehme ich. Die machen sich sowieso vor Angst in die Hosen. Sie werden die Klappe halten. Und Ehrhardt? Lass die Polizei auf Raubmord tippen! Herder wird auch keine große Lust haben, den ganzen Quark, der dahinter steckt, an die Öffentlichkeit zu zerren. Er hat sich längst ein Grundstück auf dem Gottesanger ausgesucht!“
Kapitel 28
Anfang Oktober kehre ich in die Redaktion zurück. Ich hatte nach meiner Grippe Urlaub genommen, um die schrecklichen Ereignisse zu verdauen. Soweit das überhaupt möglich ist. Ken bombardierte mich mit Prospekten von Einrichtungshäusern und Innenarchitekten. Zur Ablenkung.
Ich war nicht fähig, mir unseren Bau, an dem mit Hochdruck gearbeitet wird, anzuschauen. Ich lag trübsinnig auf dem Sofa und wollte niemanden sehen.
Ken wurde natürlich als Parteikollege von Ehrhardt verhört. Er spielte den Ahnungslosen, und die Polizei entließ ihn unbescholten. Nach einer geheimen Unterredung mit Ken verschwiegen Glatzkopf, Hansen, Martin Hardenberg und der Pummelige meine Anwesenheit im Fraktionsbüro. Die Polizei ermittelt weiter gegen Unbekannt.
Jetzt fühle ich mich etwas besser. Der Geruch von fallendem Laub belebt mich. Würzig nussig ziehen die Ausdünstungen der modernden Blätter in meine Nase. Es ist so, als koche die milchig verschleierte Sonne aus leuchtendem Laub und dunkelroten, vergessenen Flieder- und Brombeeren eine aromatische Suppe, die besser duftet und aussieht, als sie schmeckt. Kastanien und Eicheln klacken. Die sonst so stillen Bäume werden laut. Die Vögel schmettern aus voller Kehle los, bevor sie ihren Zug in den Süden antreten. In den Gärten blühen vereinzelte gelbe Chrysanthemen, violetter Phlox, Sonnenblumen und späte Rosen. Am Wegesrand wagen sich sogar Löwenzahn und Hahnenklee hervor. Jeder will so viel Sonne wie möglich speichern, bevor er in regennasser, dunkler Erde versinkt.
Mein Horoskop für heute ist rätselhaft: Glück besteht auch in der Kunst, Unglück auszublenden. Vergangenes wird durch schönere Erlebnisse abgelöst.
In der Redaktion sehen mich alle so seltsam an. Sie sagen, sie freuen sich, dass ich wieder da bin. Aber warum gucken sie verlegen zur Seite? Ahnen sie etwa was?
Ach, Unsinn! Ich muss diesen blöden Verfolgungswahn abschütteln!
Eine Stunde später habe ich des Rätsels Lösung schwarz auf weiß.
„Es tut mir leid! Mir waren die Hände gebunden. Sie sind die jüngste Redakteurin und kinderlos. Natürlich fallen Sie aus jedem Sozialplan heraus“, bedauert Wagner.
Natürlich! Ich schweige. Die betriebsbedingte Kündigung plus einer lächerlich geringen Abfindung zittert nicht in meinen Fingern.
„Ich muss den Laden gesund schrumpfen. Um jeden Preis. Die Flamstädter machen enormen Druck“, rechtfertigt Wagner sich, während ich stumm bleibe.
Herbie und Jelzick küssen mich zum Abschied. Bevor Gundula mir ihre spitzen Finger mit den roten Krallen aufdrängen kann, suche ich das Weite, um ihre triumphierenden Blicke zu meiden.
Ich bin gekränkt. Ja! Aber nicht so, wie ich es vor einigen Wochen gewesen wäre. Zu viel ist inzwischen passiert. Es ist das Beste, wenn ich Abstand gewinne. Die spannenden Themen kann ich sowieso nicht mehr anrühren.
Ich laufe durch die Fußgängerzone zum Kirchenhügel in Richtung Gottesanger. Nein, ich schaffe es nicht! Vor der Kirche versagen meine Beine. Ich setze mich unter eine alte Eiche auf eine Bank. Allein. Ich und die Welt. Die Welt und ich.
Der dumpfe Glockenschlag läutet die Mittagszeit ein. Deutlich verharrt der schwarze Zeiger der Turmuhr
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