Mordsschock (German Edition)
auf der goldenen Zwölf. Der eigentlich rote Backstein der Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte schwärzlich verfärbt. Efeuranken hüllen sie an einigen Stellen wie ein ewig grüner Mantel ein. Einsam thront sie auf dem Hügel mit ihren Kuppelfenstern aus Mosaikstein, verziert durch kunstvolle Sandsteinrosetten. Zwei verwitterte, ergraute Heiligenfiguren bewachen die mit verschnörkelten Beschlägen versehene Tür.
Meine Welt ist aus den Fugen geraten. Ich bin eine Mörderin ohne Job mit einer kleinen Schwester, der ich mein Ehrenwort gegeben habe, dass ich bald für sie sorge.
Es klingt grotesk, aber die Lösung meiner Probleme ist der Mann, der mir alles eingebrockt hat. Na ja, nicht ganz. Aber wäre ich nicht mit ihm liiert gewesen, hätte ich mithilfe von Ilse Walter die Grundstücksaffäre aufgedeckt. Und nur seinetwegen bin ich in das Fraktionsbüro gegangen, wo ich mit Ehrhardt zusammenstieß.
Ich male mit den bloßen Fingerspitzen ein großes F in den staubigen Sandboden. Meine Verzweiflung weicht der Wut.
Ich ziehe die Kündigung aus der Tasche und zerreiße sie in lauter winzige Schnipsel, die ich in einem Blätterhaufen neben der Bank mit meinem Feuerzeug anzünde. Es brennt nicht, weil das Laub zu feucht ist. Nicht einmal das gelingt mir!
Zwecklos, Pläne zu schmieden. Was ich anpacke, geht schief! Ich brauche gar nicht erst daran zu denken, in eine andere Stadt zu ziehen und mir dort einen neuen Job zu suchen. Gründe genug, die dagegen sprechen: Ich bekomme nichts, krampfe dort so herum wie hier und kann Vic wieder nicht zu mir holen.
Ich, die von frühester Kindheit an ein selbstständiger Mensch war, soll mich nun in die Abhängigkeit eines Mannes begeben? Warum sich etwas vormachen? Seit dem Abend, an dem ich Ehrhardt getötet habe, bin ich abhängig von Ken! Er ist der einzige Mensch, der weiß, wer ich bin – eine Mörderin!
Ich hätte sofort zur Polizei gehen müssen und alles auffliegen lassen sollen. Aber wäre ich jetzt in einer besseren Position? Nein! Ich hätte ein reines Gewissen, aber weder Vic, Job noch Geld. Und wer weiß, was mir diese Politikerbagage außerdem in die Schuhe schieben würde? Wie naiv von mir, zu glauben, mit einer Skandalstory aufräumen zu können! Die Einzige, die auf der Strecke bleibt, bin ich!
Die Stadt ist in ihrer Hand. Sie sitzen überall. Nicht nur auf den öffentlichen Dreh- und Angelpöstchen, sondern auch als potenzielle Anzeigenkunden der Zeitung in den Geschäften. Ein kleiner Anzeigenboykott – und raus bist du! Die Spinnen im Netz lauern auf die harmlosen Fliegen. Wer sich nicht hoffnungslos in ihre feingesponnenen Fäden verwickeln und am Ende gefressen werden will, muss ihre Spielregeln einhalten. Es gibt keinen anderen Weg.
Wir heiraten nur standesamtlich. Ohne großes Trara, in aller Stille. So habe ich es mir gewünscht. Im November ziehen wir in unser Haus auf dem Gottesanger, das in Akkordarbeit fertiggestellt wurde. Der Garten ist noch ein wüster Acker, aber die Innenarchitektur vom Feinsten. Ich schleppe Kommoden, Tische, Stühle, Lampen und Bilder hin und her, stelle sie wieder um. Das lenkt ab.
Jetzt bin ich nicht einmal ein ganzes Jahr in Rosenhagen und wohne in einem Superhaus auf einem Topgrundstück direkt an der Tale. Kaum zu glauben, was seitdem alles passiert ist. Vieles möchte ich am liebsten vergessen!
Es geschieht etwas, was mich mehr ablenkt als jede meiner Einrichtungsorgien: Vic steht eines Tages vor der Tür. Frech grinst sie mich aus großen, braunen Augen an, das Baseballkäppi typisch verkehrt herum auf dem Kopf, ihre kurzen Strähnen lugen vorwitzig an den Seiten heraus. Sie trägt eine dunkelblaue Steppjacke, einen dicken Rucksack auf dem Rücken und verdreckte Jeans. Ihre Turnschuhe waten im Novembermatsch. Wenn sie so herumzappelt, hat Vic was ausgefressen. Aber das ist ja bei ihr der Normalzustand.
„Du bist ausgerissen!“, bemerke ich scharfsinnig, nachdem ich meine kleine Schwester, einigermaßen entdreckt, ins Haus befördert habe.
„Hab’s nicht mehr ausgehalten. Sie wollen mich schmeißen!“
„Wer? Sophie und Thilo werfen dich nicht raus!“
„Quatsch! Die Penner von der Schule natürlich! Und du hast mir ja versprochen, dass ich kommen darf. Und nun, wo du so’n Kerl hast ...“ Anerkennend wandern Vics Blicke vom marmornen Caminetti-Kamin über die Arne-Jacobsen-Sessel und das getigerte Sofa aus dem Antiquitätenladen hin zu den formgewaltigen Sinclair-Kunstdrucken an der
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