Mordsschock (German Edition)
meinen Ohren rauschte es. Ich erwartete, in einem Scherbenhaufen vor einer zersplitterten Windschutzscheibe zu sitzen. Aber alles war heil. Der Gegenstand, vermutlich ein Stein, war offensichtlich neben dem Wagen aufgeschlagen.
Mir blieb keine Zeit, um das zu kontrollieren. Alles spielte sich in Sekundenschnelle ab. Wenn von der Brücke weitere Steine herunterfielen, musste ich sofort flüchten.
Der Motor heulte auf. Ich traktierte das Gaspedal und jagte den Polo vom Grünstreifen durch den Tunnel mit 180 Sachen über die Landstraße. Die Karosserie ächzte, aber wir landeten unversehrt in Rosenhagen, wo ich den Schock in einer Pulle Whiskey ertränkte.
Nach meinen bisherigen Erlebnissen glaubte ich kaum, dass irgendwelche Lausebengel auf der Brücke standen und harmlose Autofahrer bewarfen. Als ich die halbe Flasche geleert hatte, ergriff ich einen Kuli und schrieb in ähnlich steifen Lettern wie Vic, meine schauten allerdings zittriger aus, quer über einen Postkartenrücken: ‚Kommissar Herder, ich beantrage eine Panzerglaslimousine. Höflichst Nina Campbell.‘
Die Karte landete in meiner üblichen Postablage hinter der Kommode.
Luise Müller saß in einem Schaukelstuhl in der Ecke und murmelte unaufhörlich: „Ist das langweilig! Nein, wie langweilig.“
Sie feierte ihren 103. Geburtstag im Rosenhagener Altersheim. Die Verwandten waren gekommen, um ihrer Mutter, Oma, Uroma und Ururoma zu gratulieren. Natürlich fehlte auch Huber nicht, der zusammen mit Prange der ‚Rosenhagener Tochter‘ einen riesigen Blumenstrauß überreichen wollte. Als Oppositionsvertreter war Ehrhardt anwesend. Ebenfalls mit einem Blumenstrauß, der etwas zierlicher ausfiel.
Ich war ohne Blumenstrauß, aber mit Kamera, Notizblock und Kopfschmerzen da, um einen kurzen Artikel über das Leben der 103-Jährigen zu verfassen.
„Schreiben Sie, dass die Rosenhagener Luft so fit hält. Und was für ein erfülltes Leben mit vielen Kinderchen die Dame führte.“ Mit diesen sülzigen Worten hatte mich Wagner ins Altersheim geschickt.
Genau die richtige Aufgabe für meinen Brummschädel nach dem Whiskey von gestern. Brücken würde ich in nächster Zeit meiden, und wenn ich deswegen ewig lange Umwege fahren müsste!
Scheu schaute ich mich in dem finsteren Gebäude mit den langen dunklen Fluren, die arg nach Krankenhaus und altmodischem Bohnerwachs rochen, um. Es inspirierte unwillkürlich zum Schleichen und Flüstern. Als ob die Bewohner kein Lachen oder Laufen mehr vertrügen.
Neben Toilettenstühlen hockten einige Alte auf den Holzbänken. Die Aktiven spielten Karten, die anderen nickten mit den Köpfen von der einen Seite auf die andere und grinsten mich aus fahlen Gesichtern an oder dämmerten in ihren Rollstühlen vor sich hin.
Als ob diese Menschen abgestellt und vergessen worden waren, weil der Sensenmann nicht energisch genug zugepackt hatte. Beklemmend. Lieber tot als in so einem Heim begraben!
Luise Müller durfte zur Feier des Tages vormittags im Aufenthaltsraum sitzen, der sonst erst nachmittags genutzt wurde. Das erzählte mir eine ihrer Mitbewohnerinnen sechs Mal hintereinander, während sie ständig ihr Gebiss raus- und reinpresste.
Ein finsterer Raum, dem die winzigen Fenster mit den vergilbten Gardinen davor nur mangelhaftes Licht spendeten. Mittelpunkt war ein kastenartiges Monstrum von Fernseher, Lebensinhalt vieler Heimbewohner. Das spärliche Mobiliar alt und schnörkellos aus dunkler Eiche. An der Wand lehnte ein Stapel einfacher Holzstühle. Kahl und trist. Wer in dieser Umgebung nicht depressiv wurde, verfügte über ein wahres Sonnengemüt. Mir kam die Dunkelheit heute gelegen. Helligkeit beschleunigte die unheimlichen Kobolde in meinem Kopf.
Luise Müller war eine dieser nach Veilchen duftenden alten Damen, die auf den ersten Blick so reizend aussehen. Schneeweiße, spärliche Löckchen, allwissende graue Augen, Apfelbäckchen auf papierener Haut und eine zerbrechlich wirkende Figur im bunt gemusterten Blusenkleid.
Als sie gerade wieder bemerkt hatte „nein, wie langweilig ist das alles“, stellte sich Huber würdevoll mit dem lächelnden Prange an seiner Seite in Positur vor die alte Dame. „... und möchten wir Ihnen, hochverehrte Frau Müller, zu Ihrem heutigen Ehrentage recht herzlich gratulieren.“ Huber räusperte sich.
Ehrhardt wedelte im Hintergrund aufgeregt mit seinen Moosröschen herum, voller Sorge, er könne aus dem Rampenlicht gedrängt werden.
Huber zog mit schwungvoller Geste
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