Mordstheater
zu
verantwortungslos und zu dumm. Ob ich nicht sehen könne, daß das nur eine
vorübergehende Vernarrtheit in Marcus sei? Sie redete immer weiter auf mich
ein, und dann bestand sie darauf, daß ich am nächsten Tag mit ihr zu einem
Abtreiber gehen solle. Es war grauenhaft. Sie bot mir sogar an, es zu bezahlen.
Ich sagte ihr immer wieder, daß wir das Baby wollten, aber sie hörte nicht hin.
Zu dem Zeitpunkt, als Marcus eintraf, war ich in Tränenfluten aufgelöst und
völlig hysterisch. Als er fragte, was los gewesen sei, war ich so aus der
Fassung, daß ich es ihm nicht erzählen konnte. Sie dachte offenbar, ich hätte
ihm nicht gesagt, daß ich schwanger war. Ich sagte zu Marcus: >Bring mich
einfach nach Hauses was er tat. Und als ich mich beruhigte, erzählte ich es
ihm. Er war total schockiert. Ich habe ihn nie so wütend gesehen. Ich dachte,
er würde sie umbringen. Ich schaffte es, ihn davon zu überzeugen, daß es mir
schon wieder ganz gutging, und wir beschlossen, uns mit dem Haufen nicht mehr
abzugeben. Und das war das letzte Mal, daß ich sie gesehen habe. Ich bin mir
sicher, es war auch das letzte Mal, daß Marcus sie gesehen hat. Verstehst du,
er liebte die Vorstellung, daß es dich gab. Er hat dich sehr geliebt. Er war
nur einfach nicht besonders gut in der Lage, mit der Verantwortung für eine
Familie zurechtzukommen. Und in gewisser Weise hatte diese Kuh natürlich recht,
weil ich zu gewöhnlich für ihn war... Na ja, du hast mich gefragt, Sophie«,
sagte sie, als sie sah, daß mir Tränen die Wangen hinunterrannen.
Ich glaube, ich weinte mehr bei dem Gedanken,
daß mein Vater mich gewollt hatte, als über Agathas Versuch, mich loszuwerden.
Ich hatte immer angenommen, ich sei ein kompletter Unfall gewesen, und mein
Vater habe mich überhaupt nicht gewollt, sich dann aber großmütigerweise eine Weile
mit mir abgefunden, als ich halt da war. Zum ersten Mal in meinem erwachsenen
Leben hatte ich das Gefühl, ich sollte meinen Vater kennen. Vielleicht, dachte
ich, denkt er manchmal über mich nach und fragt sich, wie ich bin. Aber ich
konnte mit meiner Mutter nicht darüber reden, weil Reg in die Küche zurückkam,
und ich wußte, daß es seine Gefühle ungemein verletzen würde, wenn ich
aussprechen würde, was ich dachte.
Reg bot an, mich nach Hause zu fahren, aber ich lehnte ab.
Ich wollte etwas Zeit allein verbringen und über alles nachdenken, was gesagt
worden war. Ich war mir nicht so sicher, ob er überhaupt fahren sollte, da er
mehr als die halbe Flasche Madeira intus hatte. Schließlich schlossen wir einen
Kompromiß, und er fuhr mich die kurze Strecke bis zur Station
Harrow-on-the-Hill, die ein großer Umsteigebahnhof ist.
Die Metropolitan Line ratterte bis Finchley Road
ihres Wegs. Ich starrte aus dem Fenster, von den vorüberziehenden Lichtern
hypnotisiert und tief in Gedanken. Der Zug kam ohne ersichtlichen Grund zum
Stillstand, gerade hinter Neasden. Ich merkte, wie ich über die Schienen
starrte und nach unten, in irgendjemandes Hinterzimmer. Der Fernseher war an.
Ich konnte einen hell erleuchteten Kasten in der Fensterecke sehen; eine Frau
kam mit einem Tablett in das Zimmer und wollte sich schon hinsetzen, als sie
bemerkt haben muß, daß die Vorhänge offen waren. Sie setzte das Tablett ab und
ging sie schließen. Für eine Sekunde erschien ihr Gesicht am Fenster und
blickte hinaus in die Dunkelheit, dann, mit einer plötzlichen Bewegung, wurden
die Vorhänge zugezogen, und die kleine Welt, auf die ich geschaut hatte,
verschwand.
Ich dachte, wie seltsam es war, daß all die
Lichtrechtecke in all den Häusern entlang der Schienen Leben und Geschichten
enthielten, die ich nie erfahren würde. Manchmal berühren sich die Räume, die
wir bewohnen, für einen kurzen Moment, und dann trennen wir uns wieder in
verschiedene Richtungen. Ich fragte mich abwesend, ob ich in irgendeiner
Verbindung zu der Person stand, die gerade ihre Vorhänge zugezogen hatte. Falls
ich ihr begegnen sollte, wie viele Stunden würden wir damit verbringen, uns zu
unterhalten, bis wir einen gemeinsamen Bekannten fänden? Die ungeheure Größe
des Lebens macht Individuen so klein, daß sie nahezu unsichtbar werden, und
doch scheint es oft eine unheimliche gegenseitige Verbindung zwischen uns allen
zu geben. Meine Vergangenheit war vor langer Zeit mit der Agathas
zusammengestoßen, und durch Zufall waren unsere Leben noch einmal
zusammengestoßen. War das so ungewöhnlich, wenn man bedenkt, daß sie und
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