Mordsucht
Ich rannte ihm hinterher, zwängte mich zwischen den Leuten hindurch und griff nach seiner Schulter, als ich direkt hinter ihm ins Freie stolperte.
»Leon, warte«, sagte ich.
Er wandte sich zu mir um. Dunkle Tränensäcke, die Haut aschfahl und völlig mutlos.
»Was ist passiert?« Ich zog ihn zur Seite, damit wir nicht im Weg standen.
»Sie haben sie gehen lassen.« Leon seufzte und strich sich durch das matte Haar. »Sogar noch vor mir.« Er lachte, es klang verbittert. »Schöne Scheiße, was?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte geahnt, dass das passieren würde.
»Was haben die Beamten gesagt?«
»Nicht viel.« Er breitete die Arme aus. »Sie haben nur meine Anzeige aufgenommen. Bis der Fall vor Gericht landet, darf Carmen schalten und walten, wie sie möchte. Stell dich auf weitere unruhige Nächte ein, Tomas.«
Witzlos. Absolut witzlos. In den letzten Jahren hatte sich am Gesetz gegen Stalking zwar einiges getan, aber den Opfern fehlten die Möglichkeiten, den Stalker in seine Schranken zu verweisen. Auch für mich bedeutete Carmens Vorliebe für Leon weitere Schwierigkeiten, sollten die beiden weiterhin ihren Krieg nachts im Hausflur ausführen.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte leicht zu, um ihn aufzumuntern. »Das wird schon. Ich helf dir, wenn ich kann.«
»Danke.« Er sah mich noch eine Zeit lang schweigend an, bevor er sich von mir abwandte um zu gehen.
»Moment«, hielt ich ihn auf. »Hast du heute Abend Lust, auf ein Bier rüberzukommen?« Ich räusperte mich. »Ist allerdings Alkoholfreies, du weißt ja, mein Job …«
Er rang sich ein Lächeln ab, es wirkte echt auf mich. Kleine Falten bildeten sich um seine müden Augen, meine Frage schien ihn wirklich zu freuen.
»Gerne, wann?«
Bei meinem Beruf war es schwierig, Termine auszumachen und sie wahrzunehmen, oftmals kam etwas dazwischen. Aber da ich derzeit an keinem aktiven Fall arbeitete und der Chef mir aufgetragen hatte, meine Wiedereingliederung langsam anzugehen, nahm ich mir fest vor, mein Treffen mit Leon einzuhalten.
»Wie wäre es mit acht Uhr heute Abend? Bis dahin sollte ich zu Hause sein.«
»Geht klar, Nachbar.«
Wir gaben uns die Hand und ich freute mich auf einen Schwatz unter Männern.
Ich kehrte zurück ins Revier, schlängelte mich wieder durch die Menschenmassen und ging ins Büro der Mordkommission.
Als ich die Tür öffnete, schlug mir der Geruch frisch gekochten Kaffees entgegen. Als ich den Blick durch den Raum schweifen ließ, sah ich meine Partnerin und unseren Kollegen Jürgen Kahl nebeneinander an Dianas Schreibtisch sitzen. Sie starrten auf den großen Bildschirm und sprachen miteinander.
»Morgen!« Ich schlenderte auf sie zu und lächelte. »Kommt ihr voran?«
Jürgen schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf und konnte sich nicht vom Monitor losreißen.
»Was ist los?«, fragte ich und wunderte mich über das Verhalten der beiden. Ich ging um den Schreibtisch und richtete meinen Blick auf das, was meine Kollegen da anstarrten.
Als ich es sah, sprach Diana es flüsternd aus. »Sie haben Olivia gefunden.«
Ich las mir die hausinterne Mitteilung der Soko durch, die nach dem Kindermörder fahndete und unserem Chef all seine Fähigkeiten abverlangte.
Olivia wurde heute Nacht von einem betrunkenen Obdachlosen in der Duisburger Innenstadt mitten auf der Einkaufsstraße vor einer Boutique aufgefunden mit dem gleichen Merkmal der vorherigen Opfer: das entfernte Herz, allerdings mit einem neuen Detail: ausgestochene Augen.
Eltern sind informiert, weitere Beamte aus umliegenden Städten angefordert. Die Soko wird verstärkt und die Arbeiten intensiviert.
Nachtrag: Aktuell vermisst wird ein zehnjähriger Junge, vor einer Stunde gemeldet.
Ich schluckte. War das Herz nicht genug? Wozu stach er Olivia auch noch die Augen aus? Scham? Konnte er den klagenden Blick nicht ertragen, als sie ihr Leben aushauchte?
Oder es gehörte zu seiner perversen Fantasie, die er jetzt, um ein neues Element bereichert, in die Realität umgesetzt hatte.
Geschah es vor oder nach ihrem Tod? Ein wichtiges Detail, wenn man den gesamten Fall betrachtete. Die Obduktion des Mädchens würde das hoffentlich bald klären.
Was das nächste Kind erwartete, wollte ich mir gar nicht erst vorstellen. Vielleicht perfektionierte er seine Methode weiter …
»Schrecklich, oder?« Diana riss sich vom Bildschirm los. »Der Typ verhöhnt die Polizei! Es gibt ein Phantombild von ihm, verdammt noch mal, und er zieht
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