Mordsucht
auf.
Kapitel 20
Ich nahm eins der Fotos vom Fundort in die Hand und hielt es dicht vor meine Augen. Der Schädel des Opfers hing nur noch an Hautfetzen am Rest des Körpers. Halswirbelsäule und Kehlkopf fehlten. Wozu? Wofür brauchte der Täter das? Mir war in all meinen Dienstjahren selten etwas Abstruseres begegnet. Diese Verstümmelung sollte nicht nur zum Tod führen, da war ich mir sicher.
Ich holte den Obduktionsbericht aus der Akte und las ihn durch. Es war, wie ich vermutet hatte. Bis auf den Hautlappen im Nacken hatte es keine Verbindung mehr zwischen Kopf und Torso gegeben. Speise- und Luftröhre, Sehnen und Adern waren mit einem scharfen Gegenstand sauber durchtrennt worden. Mit der Wirbelsäule hatte der Täter mehr Arbeit gehabt, hier hatte er nicht so ordentlich gearbeitet, davon zeugten eine Menge Knochensplitter. Die Tatwaffe war noch nicht eindeutig identifiziert.
Ich legte Bild und Bericht zur Seite und ein Schauer lief mir über den Rücken. Was war so wichtig an den fehlenden Körperteilen? Das Opfer Henry Malik wurde weder vergewaltigt noch anderweitig gequält. Bis auf eine Platzwunde am Hinterkopf fehlte dem Jungen nichts.
Außer dem Hals, du Witzbold.
Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu ordnen, und nahm mir die Akte mit dem Fall des Unbekannten, dessen Haut man entfernt hatte. Ich legte die Fotos der Getöteten nebeneinander. Die Todesarten ähnelten sich kein bisschen. Ich konnte kein Muster erkennen, dennoch spürte ich, dass die Morde irgendwie zusammenhingen. Etwas war faul an der Sache. Ob man es Intuition, Eingebung oder Bauchgefühl nennen mochte: Die beiden Gewaltverbrechen zogen mich magisch an.
Ich versuchte, ins Detail zu gehen. Auf der einen Seite war ein Mann, dem die gesamte Haut vom Körper gezogen wurde und dessen Kopf unauffindbar war. Die Untersuchungen und Recherchen der Ermittler ergaben bis heute keinen Hinweis auf die Identität des Opfers. Der Rechtsmediziner schätzte das Alter zwischen dreißig und vierzig Jahre, die Herkunft wurde anhand des Knochenbaus auf eine südländische Abstammung eingegrenzt. Trotz dieser Informationen und einem öffentlichen Aufruf meldete sich keiner, der das Opfer vermisste. Abscheuliche Vorstellung, als Namenloser in den Polizeiakten zu landen. Ich war davon überzeugt, jeder starb allein, egal ob jemand anwesend war oder nicht. Das Sterben war etwas Persönliches, etwas Eigenes, das kein Mensch einem abnehmen konnte. Aber die Gewissheit, Leute zu kennen, die sich an mich erinnerten, hatte etwas Beruhigendes.
Auf der anderen Seite gab es einen zweiundzwanzig Jahre alten Mann deutscher Abstammung, der kurz nach seinem Verschwinden von seiner Mutter vermisst gemeldet wurde. Ihm fehlte der Kehlkopf und ein Teil der Wirbelsäule, ansonsten war die Leiche beinahe unversehrt.
Die Unterschiede zwischen den beiden Fällen konnten nicht größer sein. Ein Opfer jünger, eines älter, die verschiedenen Nationalitäten. Ich rieb mir die Schläfen und dachte angestrengt nach. Die einzigen Übereinstimmungen fand ich darin, dass die Opfer männlich waren, man ihnen Teile des Körpers entfernt hatte und diese nirgends wieder auftauchten. Noch was fiel mir auf: In beiden Fällen war Gerd Baack einer der ermittelnden Beamten. War das Grund genug, eine Verbindung zwischen den Taten zu sehen? Ja! Wenn ich einer Sache vertrauen konnte, dann meiner Fähigkeit, Dinge zu erkennen oder zu erahnen, wo andere keinen gemeinsamen Nenner bemerkten. Mich als Medium oder Hellseher zu bezeichnen wäre übertrieben. Ich hatte eine Gabe, der ich vieles in meiner Berufslaufbahn zu verdanken hatte.
Und warum hat deine tolle Gabe dir nicht zugeflüstert, dass dein Schwager kurz davor steht, deine Schwester und deine Nichte zu töten?
Dass sie zu hundert Prozent funktionierte und nicht ab und an einen Aussetzer hatte, bestritt ich nicht …
Ich nahm die Akten in die Hand und verließ den Archivraum. Langsam füllten sich die Flure des Reviers. Beamte in Uniform oder Zivil kreuzten meinen Weg. Mein Ziel war das Gemeinschaftsbüro unserer Mordkommission, ich hatte einen Plan gefasst, der nach Ausführung schrie.
Ich ging an der Empfangshalle vorbei und entdeckte in dem Gewusel aus Polizisten und aufgebrachten Zivilisten meinen Nachbarn, der gerade die Polizeiwache verlassen wollte. Er schlenderte durch die Eingangstür und achtete nicht auf seine Umgebung.
»Leon!« Alle Köpfe drehten sich zu mir um – alle außer dem meines Nachbarn.
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