Mordsucht
aufgeschlagen?
Ein Stich raste durch seinen Körper, als er sich erinnerte, was geschehen war. Der Kerl, der ihn nach dem Weg gefragt hatte. Verflucht!
Er wollte sich aufrichten, scheiterte aber nach wenigen Zentimetern. Er sah zu seinen Händen. Gefesselt wie ein Verrückter in der Psychiatrie. Braune Ledergurte fixierten ihn auf einer Metallliege.
»Hallo?«, rief er und sah sich um. Weiße Kacheln und mehrere Stahltische prägten den Raum.
Wo war er nur gelandet?
»Hallo! Ist da jemand?« Die leeren Wände warfen seine Frage zurück. Eine Antwort blieb aus.
Er riss an den Fesseln, scheuerte sich Hand- und Fußgelenke wund, während er wie ein Wurm hin- und herrutschte.
»Hört mich denn niemand?« Seine Frage ging in ein elendes Schluchzen über. Wie hatte er so dumm sein können? Mit seinen zweiundzwanzig Jahren hätte er wissen müssen, dass man keinem Fremden trauen durfte. Wie oft hatte seine Mutter gepredigt, er solle aufpassen?
»Zu viele Bekloppte sind unterwegs« , hatte sie gesagt. »Halt dich von ihnen fern, Henry!« Sie wedelte mahnend mit dem Finger vor seinem Gesicht herum. Im Endeffekt erzielten all ihre Tiraden keine Wirkung. Würde er sonst in diesem gottverdammten Raum gefesselt auf einem Tisch liegen und das auch noch nackt?
Er weinte, die Tränen rollten an seinen Ohren vorbei und landeten auf dem kalten Stahl.
Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn den Atem anhalten. Da kam doch jemand. Langsam und leise. Henry war sich sicher. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen.
»Lassen Sie mich gehen!«, flehte er, ohne den Mann zu sehen. Er wusste, dass es derjenige war, der ihn nach dem Weg gefragt hatte. Zweifelsfrei.
»Das geht nicht«, sagte eine hohe Stimme.
»Bitte!« Aus irgendeinem Grund ahnte Henry, dass er nicht lebend aus der Sache herauskommen würde. Er hatte zu viele Horrorfilme gesehen, in denen die Opfer auf einen Tisch gefesselt und zu Tode gequält wurden. Ob der Mann es den Killern in den billigen Streifen gleichtat? Henry zitterte und weinte, er dachte an seine Mutter, die in diesem Moment vermutlich verzweifelt am Telefon saß und seine Freunde anrief.
»Hast du Henry gesehen?« , hörte er sie in Gedanken. »Er ist nach dem Training nicht nach Hause gekommen.« Sie legte eine Pause ein. »Nein? Wenn du ihn siehst, richte ihm aus, dass ich mir Sorgen mache. Auf Wiederhören.«
Wer würde sich um sie kümmern, wenn er nicht mehr da war? Sie brauchte Pflege, vor allem jetzt, während der zweiten Chemotherapie. Ohne ihn würde sie zugrunde gehen.
»Bitte, lassen Sie mich laufen. Ich muss zu meiner Mutter, sie ist krank.« Ein Schluchzen ließ seinen Körper erzittern.
Etwas Metallisches klirrte und dann trat er endlich in Henrys Blickfeld. Die Augen sanft und harmlos, die Lippen zu einem freundlichen Lächeln verzogen, stand er mit einem Skalpell in der Hand vor ihm. Wer würde diesem Mann nicht vertrauen? Es ging bis auf das Skalpell keine Bedrohung von ihm aus. Henry hatte selten in seinem Leben solch ein gütiges Gesicht gesehen. Waren gerade diese Menschen nicht die gefährlichsten? Die, denen man den Wahnsinn nicht ansah?
»Was haben Sie vor?« Henry sah ihm starr in die Augen, er versuchte Kontakt zu ihm aufzunehmen und den Irrsinn zu beenden.
»Ganz ruhig, schone deine Stimme, es ist gleich vorbei …« Der Mann beugte sich über ihn und verdeckte die Neonlampe an der Decke.
Henry zitterte, sein Herz schlug hart gegen den Brustkorb und er hechelte wie ein Hund, während der Mann eine Hand auf Henrys Stirn legte und mit der anderen das Skalpell schwebend über ihn hielt.
»Und jetzt stillhalten, sonst geht ' s daneben …«
Henry fühlte die scharfe Klinge an seinem Hals. Der erste Schnitt brachte ihn zum Schreien. Er versuchte, seinen Kopf von dem Monster abzuwenden. Die Hand auf seiner Stirn machte es unmöglich.
Der zweite Schnitt brannte stärker und Henry spürte etwas Warmes, Klebriges an sich herablaufen: sein Blut. Es floss unaufhaltsam aus seinem Körper und sammelte sich nass in seinem Rücken, während das Skalpell weiter in sein Fleisch fuhr.
Er wollte brüllen, dem Mann das Herz aus dem Leib zerren und es unter seinen Füßen zertreten. Das war alles, was er noch denken konnte. Henry wurde schwächer. Der über ihn gebeugte Mann verschwamm zu einer Silhouette des Grauens. Er glaubte, die Konturen eines Dämons über sich schweben zu sehen, und als dieser anfing an seiner Kehle zu reißen, verlor er das Bewusstsein und wachte nie wieder
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