Mordswald - Hamburgkrimi
Lederjacke
und eine Jeans, die einmal ganz ordentlich gewesen zu sein schien, jetzt aber
mit dunkler Erde, Blut und noch etwas Rötlich-Grauem beschmutzt war. Er lag auf
der Seite, eine Hand schützend auf der Schläfe, als wollte er sich immer noch
gegen das wehren, was ihm widerfahren war. Eine Gesichtshälfte lag auf dem
dunklen Waldboden, die andere war unter einer Schicht verkrusteten Blutes kaum
zu erkennen. In einer offenen Wunde an der Schläfe krabbelte eine Ameise.
Lina hob den Kopf und schnüffelte. "Hat er vor seinem
Tod gekotzt?"
Sotny legte den Kopf schräg. "Das können Sie riechen?
Erstaunlich."
Ehe Lina etwas erwidern konnte, flog ein Flugzeug im Tiefflug
direkt über ihren Köpfen hinweg und machte jede Unterhaltung zunichte. Wenige
Sekunden später ging ein Rauschen durch die Baumwipfel, als folgten die Seelen
der Reisenden dem Flugzeug in ihrem eigenen Tempo.
"Er hat sich", fuhr Sotny fort, als es wieder
ruhiger wurde, "tatsächlich vor seinem Tod übergeben. Wir haben an seinem
Mund Spuren davon entdeckt, und ich gehe davon aus, dass auch die Pfütze auf
dem Boden von ihm stammt."
"Können Sie uns schon etwas über den Toten sagen?",
fragte Max.
"Männlich, zwischen dreißig und vierzig Jahre,
vermutlich näher an die Dreißig. Gute körperliche Verfassung, wenn man einmal
davon absieht, dass er tot ist."
"Ist er an der Kopfwunde gestorben?", fragte Lina.
"Gut möglich. Ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.
Möglicherweise ein Stein." Sotny machte eine unbestimmte Handbewegung, die
das Unterholz um den Toten herum mit einschloss. "Davon gibt es hier mehr
als genug. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis wir was finden."
"Todeszeitpunkt?"
"Irgendwann letzte Nacht."
Darauf wäre Lina auch allein gekommen. Beim Niendorfer Gehege
im Norden von Hamburg handelte es sich um ein kleines, hochfrequentiertes
Waldstück. Ein Radfahrer auf dem Weg zur Arbeit hatte die Leiche heute Morgen
gefunden, und es war so gut wie unmöglich, dass sie länger als ein paar Stunden
unentdeckt im Unterholz gelegen hatte.
"Geht's etwas genauer?", fragte Max.
"Zwischen elf und etwa drei Uhr, aber nageln Sie mich
bitte nicht fest, wenn es eine halbe Stunde früher oder später wird. Genaueres
kann ich erst nach der Obduktion sagen."
Max Berg nickte und betrachtete aufmerksam den Toten und die
Umgebung. "Ziemlich viele Spuren, oder täusche ich mich?", bemerkte
er, an Hartmann gewandt. "Oder stammen die alle von dir und deinen
Leuten?"
"Einige, aber längst nicht alle. Es muss hier in der Tat
zugegangen sein wie in einem Taubenschlag. Wir scheinen es mit mindestens drei,
vielleicht vier verschiedenen Fußabdrücken zu tun zu haben, wobei einer
natürlich dem Toten gehört."
"Also zwei oder drei Täter?"
"Könnte sein. Oder jede Menge Neugierige, von denen keiner
die Polizei gerufen hat."
"Raubüberfall?"
Hartmann zuckte die Achseln. "Ich wollte gerade die
Taschen durchsuchen, als ihr kamt."
Max nickte in Richtung der Leiche. "Dann will ich dich
nicht länger aufhalten."
Vorsichtig ging Hartmann neben dem Toten in die Hocke. Lina
sah ihm zu, dabei fiel ihr Blick auf das geschundene Gesicht des Toten.
Vermutlich hatte er gar nicht schlecht ausgesehen: dunkle, kurze Haare,
glattrasiertes Kinn. Das Auge, das weit aufgerissen immer noch in das grüne
Unterholz vor sich zu starren schien, war blau. Sie wandte den Blick ab. Dies
war nicht die erste Leiche, die sie sah, aber gewöhnen würde sie sich nie an
den Anblick. Dabei sah diese hier noch vergleichsweise harmlos aus. Sie musste
an die Überreste der Frau denken, die sie im Winter vor zwei Jahren aus dem
Hamburger Hafenbecken gefischt hatten, und war froh, dass sie noch nicht
gefrühstückt hatte.
Hartmann durchsuchte behutsam die Taschen des Toten, wobei er
die Leiche so wenig wie möglich bewegte. Er förderte ein Schlüsselbund, ein
Smartphone sowie eine Brieftasche zutage, die er aufklappte und ebenfalls
durchsuchte. In einem der Fächer steckte ein neuer Personalausweis, den
Hartmann vorsichtig herauszog und in einem kleinen Plastikbeutel verstaute.
Dann stand er auf und kam wieder zu Berg und Lina Svenson zurück.
"Hier", sagte er und stand auf. "Erleichtert
euch hoffentlich die Arbeit."
Max griff nach dem eingetüteten Personalausweis.
"Philip Birkner", las er vor, dann die Adresse und
das Geburtsdatum. Sotny hatte recht gehabt. Der Tote war vierunddreißig Jahre
alt geworden.
2
A uf dem Weg zur Adresse im
Personalausweis hielt Max
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