Morenga
Missionsschule zugeteilt worden, und zwar ein Einzelzimmer. Einzelzimmer waren eigentlich Stabsoffizieren vorbehalten. Wahrscheinlich hatte keiner mit ihm ein Zimmer teilen wollen, so wie Gottschalk früher versucht hatte, nicht mit Wenstrup in ein Zimmer gelegt zu werden. Nur daß Wenstrup wegen seiner Kritik, wegen seiner Renitenz gemieden wurde, während Gottschalk eher als wunderlich und etwas obstinat galt. Wahrscheinlich hatte niemand der Stabsoffiziere in diesem Zimmer schlafen wollen, das zwar sechs Meter lang, aber nur wenig mehr als einen Meter breit war. Wollte Gottschalk ans Fenster gehen, mußte er erst über sein Feldbett steigen, das er aus Symmetriegründen in die Mitte des Zimmers gestellt hatte. Das Zimmer war Teil eines ehemaligen Korridors. Vor dem Fenster lagen die Tennisplätze. Früher hatten hier der Bezirksamtmann und der Bezirksarzt hin und wieder ein Match ausgetragen. Inzwischen waren drei neue Plätze angelegt worden, die täglich mit Ziegelmehl bestreut und gefegt wurden. Am späten Nachmittag, wenn es abkühlte, spielten die Offiziere. Gottschalk saß dann manchmal am Fenster und verfolgte die Ballwechsel, wobei er jedesmal den Kopf leicht hin und her bewegte, bis ihm das zu dumm wurde. Dennoch wurde er, wollte er lesen oder etwas schreiben, immer wieder abgelenkt. Kam der Wind von Westen, war seine Uniform rotgefärbt vom Ziegelstaub. Vor dem Ort waren zehn gefangene Hottentotten damit beschäftigt, alte Ziegelsteine zu zertrümmern und mit Hämmern die Stücke in Ziegelmehl zu verwandeln.
Gottschalk hatte, da es im Ort noch vier andere Veterinäre gab, kaum etwas zu tun. Allerdings hockte er nicht mehr in dem Tabakskollegium, das es immer noch gab, sondern lag meist in seinem Röhrenzimmer auf dem Feldbett und verfolgte den Weg der Wanzen an Wänden und Decke, unnatürlich großer, blutgieriger Wanzen, von denen die Ortsansässigen behaupteten, sie hätten sich erst in den letzten Wochen und Monaten derart vergrößert.
Manchmal nachts wachte er plötzlich auf und glaubte, die Wärme des Körpers von Katharina zu spüren, ihre mattbraune Haut, den Geruch der Erde. Da war in ihm ein unkontrollierbares, irrwitziges Verlangen nach körperlicher Nähe, nach Zärtlichkeit, das ihn den Kopf an die Wand schlagen ließ. Erst das Klopfen von nebenan brachte ihn zur Ruhe.
Ein einziges Mal war er in Warmbad zu ihrer Familie gegangen. Sie hatte ihn darum gebeten. Der Pontok lag vor dem Ort und war mit zerlumpten Matten behangen. Zwei Ziegen standen im Schatten, und dazwischen krochen Kinder, ihre Geschwister. Ihr Vater saß, eine kalte Pfeife in der Hand, auf einer Bank. Ein alter, schon gebrechlicher Mann, der spät zum dritten Mal geheiratet hatte. Er war jetzt am Vormittag schon betrunken. Er bettelte Gottschalk sofort um Tabak an, den Gottschalk ihm als Geschenk mitgebracht hatte. Das einzige Wort in Deutsch, das er immer wieder sagte, war: Gehtinordnung. Katharina bot Gottschalk etwas Ziegenmilch an. Eine dicke Matrone kam, deren eine Brust aus dem zerfetzten Kleid hing, als gehöre dieses große Stück Fleisch nicht zu ihr. Das Gesäß war tonnenartig. Was an Katharina klein und zierlich war, schien an dieser Frau überdimensional vergrößert. Das Erschreckende aber war, daß Gottschalk plötzlich die Mutter in der Tochter sah. Der Vater brabbelte etwas Unverständliches in Kapholländisch und wiederholte immer wieder dieses Wort: Gehtinordnung, dessen Bedeutung Gottschalk erst langsam verstand.
Nach diesem Besuch war Gottschalk Katharina aus dem Weg gegangen. Einmal, nachts, war sie zu dem Haus geschlichen, in dem er schlief, und hatte in Nama nach ihm gerufen. Doktor Haring wollte die Wachen alarmieren, aber Gottschalk konnte ihn davon abhalten.
Als Gottschalk zwei Tage später den Befehl erhielt, mit der Abteilung Koppy nach Kalkfontein abzurücken, war er regelrecht froh, aus dem Ort wegzukommen.
Jetzt wäre er gern in Warmbad gewesen, obwohl er nicht wußte, wie er sich hätte verhalten sollen.
Das Beklemmende an dieser Erinnerung war dieses Gefühl einer zärtlichen Nähe und zugleich einer unüberwindbaren Ferne.
Nachts wachte er oft auf, einen faulen Geschmack im Mund und im Magen bohrende Schmerzen. Ihm war, als sei er innerlich wund. In dieser Zeit grübelte er darüber nach, ob es einen freien Willen gäbe. War nicht alles, was man tat und dachte, notwendig, festgelegt durch eine Unzahl kleiner, winziger Zufälle, die zusammen eine eiserne Notwendigkeit ergaben, so
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