Morenga
sogar der Pastor kniet nieder und blickt unter den Tisch. Alles umsonst. Man steht verlegen herum. Da blickt jemand zufällig in die Höhe und zeigt entsetzt auf die Gardinenstange. Da sitzt das Kleine oben, schwarzbehaart wie ein Affe. Und es hat auch Kletterfüße.
Während der Bescherung wurden den Offizieren von den Mannschaften kleine, meist selbstverfertigte Geschenke überreicht: eine aus Kameldornholz geschnitzte Kanone, ein aus Hottentottenkugeln zusammengelöteter Briefbeschwerer in Pyramidenform, eine aus einem Kaktusdorn gefertigte Krawattennadel, ein Aschenbecher aus der Schädeldecke eines Hottentotten.
Einzig Gottschalk erhielt zwei Geschenke. Was sogleich die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Einmal ein kleines vietnamesisches Hängebauchschwein, das der Unteroffizier Rattenhuber aus einem von einer Hererokugel zersplitterten Gewehrkolben geschnitzt hatte. Rattenhuber, der am Kampf gegen den Boxeraufstand in China teilgenommen und dort erstmals ein Hängebauchschwein gesehen hatte, setzte sich mit Energie und all seinen dialektgebundenen Überredungskünsten dafür ein, dieses enorm fleischige Tier auch in diesem Lande heimisch zu machen. Gottschalk konnte sich nicht recht erklären, warum der Unteroffizier ausgerechnet ihm dieses Geschenk gemacht hatte. Möglicherweise als Dank dafür, daß Gottschalk auf dem Patrouillenritt Rattenhuber ein Furunkel im Nacken aufgestochen und sich dabei geduldig die Eishockeypläne des Unteroffiziers angehört hatte. Vielleicht wollte Rattenhuber aber auch nur den Veterinär für seinen Plan gewinnen, das Hängebauchschwein in Südwest einzuführen.
Das andere Geschenk war ein in blaues Papier eingewickeltes Buch, das Wenstrup Gottschalk überreichte mit dem dunklen Hinweis: Nicht weil es Weihnachten, sondern weil es Zeit sei.
Gottschalk wickelte das Buch ahnungslos im Kasino aus, wo man trotz der bedenklichen Versorgungslage Sekt aufgefahren hatte, und erschrak, als er Verfasser und Titel las: Pjotr Kropotkin, ›Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung‹.
Er schob das Buch unter einen der Tamariskenzweige, mit denen die Ordonnanzen den Tisch weihnachtlich geschmückt hatten.
Bezirksamtmann Schmidt hielt, kurz bevor die Erbswurstsuppe serviert wurde, eine Rede, in der er einen Appell an alle Offiziere richtete. Er bat sie, für den Fall, daß sie den Heldentod erleiden sollten, ihren Leib weder verbrennen noch mit ungelöschtem Kalk bestreuen zu lassen. Letzteres gelte vor allem für jene, die einem Seuchentod erlägen. In diesem Sinne bat er dringlich, auch auf die Mannschaften einzuwirken.
Schmidt war Mitglied der Internationale für Humifikation. Es könne, so argumentierte Schmidt, falls sich die Feuerbestattung durchsetzen sollte, zu einer empfindlichen Störung des natürlichen Gleichgewichts kommen. (Schmidt lehnte auch Kunstdünger in jeder Form ab.) Es müsse doch für jeden ein tröstlicher Gedanke sein, wenn er sein Leben für die gerechte Sache gäbe, daß aus der Verwesung seines Leibes neues Leben entstünde. Es sei bekannt, daß die Verwesungsstoffe wesentlich zur Humusbildung beitrügen. Das müsse besonders in einem Land wie Südwest berücksichtigt werden, dem es, sandig und karstig, an jeder möglichen Form effektiver Humusbildung fehle. Wer also sein Leben in die Schanze schlage für diesen deutschen Boden, der müsse auch mit seinem Leib noch für eine fruchtbare Zukunft beitragen. Hunderttausende von Deutschen könnten aus der quetschenden Enge des Vaterlandes hier eine neue deutsche Heimat finden, wenn es gelänge, dieses Land zu kultivieren. Darauf und auf den deutschen Kaiser wolle er einen Toast ausbringen.
Obwohl Gottschalk an diesem Abend ziemlich besoffen aus dem Kasino kam, gelang es ihm, das Buch unbemerkt unter dem Rock herauszutragen. Am nächsten Tag überlegte er, ob er es nicht einfach vergraben solle. Er versteckte es in einer Munitionskiste.
Erst hier in Keetmannshoop hörte Gottschalk diesen Namen: Morenga. Man befürchtete, er könne bis zum Ort vordringen und ihn belagern, wie er es mit Warmbad versucht hatte. Ein Gefreiter wußte auch zu berichten, daß Morenga die Gefangenen nicht niedermache. Er selbst war bei dem Patrouillengefecht des Barons von Stempel dabeigewesen und hatte mit eigenen Augen jenen Reiter gesehen, der zunächst als vermißt galt, zwei Tage später dann auftauchte, verbunden und gut verproviantiert. Er soll sogar mit Morenga gesprochen haben. Der Kommandeur habe dem Mann aber ausdrücklich verboten,
Weitere Kostenlose Bücher