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Morenga

Morenga

Titel: Morenga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Sandinseln in der Elbe gesegelt.
    Er mußte schon geschlafen haben, als er von der Musik aufwachte. Alle sprangen auf. Da spielte tatsächlich jemand auf einer Mundharmonika ›Heil dir im Siegerkranz‹. Schwanebach schrie mit gezückter Pistole Befehle. Man suchte und fand schließlich Wenstrup, etwas abseits auf einem Stein sitzend, das Gewehr zwischen den Knien, die Mundharmonika spielend. Neben ihm, den schleppenden Rhythmus mitklatschend, Jakobus.
    Eine selten dämliche Melodie, sagte Wenstrup zu Schwanebach, dabei die Mundharmonika in der Hand ausklopfend. Der Mann ist ja verrückt, sagte Schwanebach.

    Meldung des Leutnants v. Schwanebach betreffs eines Wachvergehens und mehrerer Insubordinationen auf dem Patrouillenritt von Gibeon nach Keetmannshoop
    Am Abend des 13. Dezember machte sich der Unterveterinär Wenstrup eines Wachvergehens schuldig, indem er während der Wache Mundharmonika spielte. Zur Rede gestellt antwortete er: Er spiele Mundharmonika mit dem Mund und nicht mit den Augen.
    Am darauffolgenden Tag begann er während des Ritts plötzlich zu jodeln. Wieder zur Rede gestellt, ob er die Patrouille an den Feind durch Zeichen verraten wolle (der Unterveterinär lernt Nama!), gab er zur Antwort, das sei lediglich überschwengliche Lebensfreude. Ich habe es ihm ausdrücklich verboten, dennoch jodelte er gegen Abend ein zweites Mal. Am Biwak führte er aufrührerische Reden, die auch die umsitzenden Reiter verstehen konnten, auch wenn er sich dabei ausschließlich an den Oberveterinär Gottschalk wandte. Der Unterveterinär verglich die Disziplin mit einem Dressurakt. Das Ergebnis solcher Dressur aber seien Tanzbären. Gehorsamkeit hingegen verglich er mit dem Adler auf dem Helm des Garde du Corps: aus Blech und des Fluges untauglich. Auf meine Frage, ob dasselbe auch für seine Majestät den Kaiser gelte, antwortete er ausweichend, selbstverständlich, der Kaiser könne doch nicht fliegen.
    Phantasie und Spontaneität schätzt der Unterveterinär, wenn ich ihn richtig verstanden habe, als durchaus positive Werte. Die deutsche Zivilisation verglich er mit einem Spreizfuß. Wörtlich sagte er: Und wir wollen diesen Menschen (gemeint waren die Hottentotten) das Laufen beibringen. Als spanischen Schuh bezeichnete er: den Staat, die Armee, die Polizei, das Beamtentum (insbesondere das preußische), Pfarrer, Parkwächter und alle Oberlehrer. Seine Majestät persönlich wurden nicht beleidigt.
    gez. v. Schwanebach

    Auf dem Ritt nach Keetmannshoop hatte Gottschalk tatsächlich feststellen können, daß Wenstrup, obwohl Berliner, jodeln konnte. Wenstrup behauptete, nur jodelnd sei diese Landschaft erträglich. Einen Moment zweifelte Gottschalk an dem Verstand des Mannes. Dann fragte er sich, ob Wenstrup sich nicht vielleicht einen Jagdschein ergattern wolle. Aber warum sollte er sich drücken wollen, da er sich doch freiwillig gemeldet hatte und jetzt in Windhuk vor einem Mikroskop hätte sitzen können. Auch das, was Wenstrup abends am Biwak sagte, war möglicherweise etwas überspannt, etwas extrem, aber durchaus bedenkenswert. Als Wenstrup behauptete, der Staat sei ein spanischer Schuh für das Individuum, fragte Gottschalk sogleich nach, wie er sich denn einen sozialdemokratischen Staat vorstelle. Nein, er denke gar nicht daran, den monarchistischen Staat mit einem sozialdemokratischen zu vertauschen, man hätte dann zwar kein gekröntes Haupt mehr, sondern nur ein präsidiales, wenn man so will, aber der Staat würde bleiben, möglicherweise sogar mit denselben Gerichtsvollziehern, Reichsbahndirektoren, Polizeikommissaren und Oberkonsistorialräten. Zum aufrechten Gang käme nur, wer alles abwürfe, was ihm im Nacken säße.
    Dieser Satz ist in Gottschalks Tagebuch zu finden, während etliche Seiten der vorangegangenen Tage leider herausgerissen sind.

    Erst auf diesem Ritt muß Gottschalk klargeworden sein, daß er in Wenstrup nicht, wie geglaubt, einen Parteigänger der Sozialdemokraten getroffen hatte, sondern – ein wirklich ungewöhnlicher Zufall – wahrscheinlich den einzigen anarchistischen Veterinär des deutschen Heeres. Gottschalk war über diese Erkenntnis derart überrascht (und der Umsitzenden wegen auch verunsichert), daß er ganz unvermittelt das Gespräch auf das Wetter brachte, das gesunde Hochlandklima lobte, von der klaren Luft schwärmte, die den Blick so weite, daß man alle Entfernungen näher schätze. Aber Wenstrup antwortete nur, er müsse in der Natur, insbesondere bei

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