Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
ihr folgen. »Bruder!« erinnerte ihn Erij. Er blieb stehen. Sie verschwand nach unten.
Als ihre Schritte verhallt waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich umzudrehen und dem zornigen Blick seines Bruders zu begegnen. Er kniete sich auf den kalten Boden und drückte die Stirn dagegen – die Geste der Unterwerfung, die sein Eid von ihm verlangte.
»Deine Unterwürfigkeit kommt ein wenig spät«, sagte Erij. »Steh auf. Ich möchte dir in die Augen schauen, wenn du meine Fragen beantwortest.«
Vanye kam der Aufforderung nach.
»Hat sie die Wahrheit gesagt?«
»Ja«, antwortete Vanye. »Ich halte es für die Wahrheit.
Wenn du zweifelst, solltest du diese Zweifel wenigstens einen Tagesritt weit von hier forttragen. Wenn du die Burg dann immer noch stehen siehst, hat sie gelogen.«
»Was soll das Gerede von den Toren?«
»Keine Ahnung – nur daß die Zauberfeuer manchmal eine andere Seite haben und manchmal nicht und daß sich Morgaine, sobald sie einmal hindurchgeschritten ist, an einem Ort befindet, an dem wir sie nicht erreichen. Es tut mir leid. Sehr deutlich hat sie mir das nicht erklärt. Jedenfalls kommt sie nicht zurück. Ivrel ist ein Tor, das sich schließt, wenn diese Burg untergeht, danach gibt es keine Zauberfeuer mehr, keine Thiyes mehr, keine Magie mehr in dieser Welt.«
Er blickte sich in dem riesigen Saal um, der in seiner Komplexheit an das Innere eines gewaltigen Ungeheuers erinnerte, dessen Venen Lichterketten waren, dessen Herz und Puls sich im Aufglühen und Verglimmen manifestierten.
»Wenn du nicht sterben willst, Erij«, fuhr er fort, »solltest du auf ihren Rat eingehen und möglichst weit weg sein, wenn es passiert.«
Die Pferde standen dort, wo sie sie zurückgelassen hatten, geduldig in der grauen Dämmerung wartend und grasend, als wäre es ein ganz normaler Tag. Vanye überprüfte die Sattelgurte und zog sich auf den Rücken seines Tiers. Erij tat es ihm nach. Diesmal ritten sie auf der Straße, wo sie schneller vorankamen, und warfen schließlich einen letzten Blick auf den riesigen Würfel von Ra-hjemur, der mit dem eingerissenen Tor wie ein tödlich verwundetes Lebewesen aussah.
Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg nach Morija. »Es gibt keinen Lord von Hjemur mehr«, sagte Vanye schließlich. »Du und Baien – ihr seid die beiden einzigen verbliebenen Klan-Lords von Bedeutung. Nun bietet sich euch die Chance, es ohne hjemurn-Zauberei zum Hochkönig zu schaffen – vielleicht wäre das zum Vorteil aller Menschen.«
»Baiens Lord ist alt«, sagte Erij, »und hat eine Tochter. Ich glaube nicht, daß er sich sein Alter mit einem Krieg verderben und sein Land ruinieren möchte. Vielleicht kann ich ein Bündnis mit ihm schließen. Chya Roh ist ohne Erben gestorben. Sein Land wird uns nicht mehr soviel zu schaffen machen wie bisher. Pyvvns Lady ist eine Chya, und wenn wir die Chya in Koris im Griff haben, wird Pyvvn sich unterwerfen.« Erijs Stimme klang beinahe freundlich, während er so seine Möglichkeiten durchspielte und leichthin etliche Kriege in Kauf nahm.
Vanye aber suchte die vor ihnen liegende Straße ab, die sich um einen Hang wand und weiter südlich wieder auftauchte. Er hoffte sie zu entdecken, sah sie schon vor seinem inneren Auge, so wie sie an jenem Abend aus Aenor-Pyvvns Tor geritten war.
»Du hörst mir ja gar nicht zu«, sagte Erij vorwurfsvoll. »Aye«, antwortete er, blinzelte, gab seine Überlegungen auf und wandte sich wieder Erij zu.
Danach spürte er ab und zu Erijs neugierigen Blick. Das Gesicht seines Bruders wurde immer mürrischer, als seien die Bruderbande, die an diesem Morgen in Ra-hjemur zwischen ihnen gewachsen waren, schon wieder in Auflösung begriffen.
Er begann bereits um seinen Frieden zu fürchten, so grimmig blickte Erij drein.
»Außer uns gibt es kein Hoch-Klan-Blut mehr in Morija«, sagte Erij gegen Mittag, als die Sonne sie beinahe wärmte; sie ritten noch immer Knie an Knie.
Himmel!
dachte Vanye und warf einen bedauernden Blick auf die Sonne und die Hügel.
Jetzt kommt’s!
Längst hatte er den Schluß gezogen, auf den sicher auch Erij kommen würde: daß angesichts ihrer Feindschaft Erij verrückt gescholten werden mußte, wenn er in Morija einen Gefangenen von hoher Abstammung vorwies. Ohne Ra-hjemur als Basis für seine Herrschaft war seine Macht nicht groß genug, um auch nur den Verdacht der Unenre zu überstehen – oder einen Rivalen. Ein Bastard-Chya würde in dieser Atmosphäre Politik und Ränke
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