Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
das trockene Brot und den starken Käse. Die Nahrung gab ihm neue Kraft. Er betrachtete seinen Bruder im Tageslicht und sah einen Mann, der ebenso hager, übermüdet, unrasiert war wie er; doch bei vernünftigem Tempo und mit ausreichenden Vorräten standen ihre Chancen, Ra-hjemur zu erreichen, womöglich besser, als er sie noch gestern abend beurteilt hatte.
»Die anderen kommen bestimmt kaum schneller voran als wir«, sagte er zu Erij. »Sie reiten zwar vor uns… aber auch sie können sich selbst und den Pferden nicht alles zumuten.«
»Möglich, daß wir sie einholen«, sagte Erij.
Erij sah die Situation offenbar sehr nüchtern, nachdem die Anwandlungen der Nacht verflogen waren: im ersten Augenblick schien seine Stimme sogar entschuldigend zu klingen. Vanye hakte sofort nach.
»Ich bin stärker«, sagte er. »Ich könnte weiterreiten. Hör zu. Du hast eine Art Inanspruchnahme gegen mich ausgesprochen, und sobald ich meines Eides gegenüber Morgaine ledig bin, diene ich deinen Interessen und werde Ra-hjemur für dich halten.«
»Und natürlich würde die Hexe das zulassen.«
»Sie hat kein Interesse an Ra-hjemur; sie will lediglich mit Thiye abrechnen und dann ihres Weges ziehen. Sie kommt nicht zurück. Sie stellt keine Gefahr für dich dar, Erij, nicht die geringste Gefahr. Ich bitte dich ernsthaft, sie zu schonen.«
»Da du ihr
ilin
bist, mußt du mich natürlich darum bitten: ich respektiere das. Aber da ich das nun einmal weiß, muß ich dich natürlich nach Ra-hjemur begleiten, und auf keinen Fall werde ich deinen loyalen Händen diese Klinge überlassen, Bastardbruder. Du hast mich einmal überzeugt, das ist mich teuer zu stehen gekommen, hat mich viele Menschenleben und viel Ehre gekostet. Du kannst nicht damit rechnen, daß ich denselben Fehler zweimal mache.«
So blieb Vanye keine andere Möglichkeit, als Erij die Waffe gewaltsam abzunehmen oder sie ihm zu stehlen, oder den Bruder irgendwie zu täuschen, damit er selbst tat, was zu tun war – Eidbruch und Mord zugleich.
Seit dem Augenblick, da er von Morgaine erfuhr, was er tun mußte, ahnte er, welcher Tod ihn erwartete, wenn er ihren Befehlen Folge leistete.
Sein Feld, auf die eigene Energiequelle gerichtet, würde alle Tore vernichten,
hatte sie gesagt. Und:
Dieselbe Wirkung ergäbe sich, wenn man es ins Tor wirft: zieh es aus der Scheide und schleudere es durch. Beide Wege wären ausreichend.
Wechselbalg
zapfte die Zauberfeuer Ivrels an. Die schwarze Leere jenseits des Tors war dasselbe winzige Nichts, das an
Wechselbalgs
Spitze flimmerte, das ganze Menschen erfaßte und hindurchwirbelte. Windstöße in Welten, da ein Mensch nicht überleben konnte, so wie der Drache hier im Schnee eingegangen war… andere Himmelssphären, wo ewig Nacht herrschte. Zielte er mit
Wechselbalg
auf das Tor, war Leere auf Leere gerichtet, Wind zog an Wind, zerrte an der eigenen Substanz, zog alle Dinge in seinen Schlund.
Vielleicht würde Ra-hjemur auf diesem Pfad der Vernichtung mitgerissen werden, Ra-hjemur und alles, was darin lebte. Die Kraft, die in Irien zehntausend Männer spurlos entführt hat, war sicher nicht so fein zu steuern, daß sie sich, aufs höchste entfacht, auf einen einzigen Mann beschränkte.
Erschaudernd dachte er an die Gesichter jener Kämpfer, die er ins Feld hatte entschwinden sehen, ihr Entsetzen, ihr Erstaunen – Menschen, die am Tor der Hölle angekommen waren.
Ja, so sollte auch ihr Ende aussehen, das Ende der noch lebenden Söhne Nhi Rijans, trotz all ihrer Differenzen und ihres Hasses.
Er hielt das Gesicht abgewandt, bis der Wind die Tränen auf seinem Gesicht getrocknet hatte, und machte sich dann daran zu tun, wozu ihn sein Schwur verpflichtete.
Vor ihnen lag das größte Tal des Nordens, das Tal der Hjemur-Feste, ein grasbestandenes Terrain, umgeben von schneebedeckten Gipfeln, ein herrliches Panorama bis auf eine Stelle, die sogar aus dieser Entfernung bleich und krankhaftverkommen aussah.
»Das«, sagte Vanye, deutete auf die Scheußlichkeit und dachte an das Ödland, das die Tore in ihrer unmittelbaren Umgebung hervorriefen, »das muß Ra-hjemur sein.« Wenn er die Augen anstrengte, glaubte er dort eine Anhöhe wahrzunehmen, einen verschwommenen Hügel in der Ferne, der das Fundament Ra-hjemurs bilden mochte.
Sie hatten Liell schließlich doch nicht eingeholt. Dort unten verlief die Straße, und nichts rührte sich darauf. Das Land schien ansonsten unbevölkert zu sein.
»Es ist zu malerisch«, sagte Erij, »zu
Weitere Kostenlose Bücher