Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
fiel, blieb er stehen. Ohne zu zögern griff er danach.
Und dort stand Erij neben seinem Pferd und starrte ihn an, nackten Haß und nackte Furcht in den Augen.
Hätte er Erij nicht gekannt, wäre ihm der Mann so verrückt vorgekommen wie Kasedre; doch urplötzlich durchlebte er dasselbe Gefühl, altvertraut. Erij fürchtete ihn tatsächlich. Von ihm entstellt, von ihm der früheren Fähigkeiten beraubt, empfand Erij Angst vor Vanye und erwachte nachts vermutlich aus Träumen, wie auch Vanye sie kannte, Träume von Rijan und Kandrys und einem morgendlichen Hofgericht in der Waffenkammer.
Vater liebte die Vollkommenheit,
hatte Erij einmal gesagt. Es
widerstrebte ihm sehr, Nhi einem Krüppel zu hinterlassen.
Außerdem hat er mir nie verziehen, daß von seinen beiden legitimen Söhnen ich der Überlebende war.
Aber Erij war nun doch so vernünftig, ihm eine Waffe zu geben, obwohl seine Instinkte dagegen rebellierten. Ein einhändiger Mann, der allein nach Hjemur ritt… vielleicht hatte er weniger Angst vor dem Tod als davor, sich als Schwächling zu erweisen.
Vanye zollte seinem Bruder mit einer ungeschickten Verbeugung Respekt. »Wahrscheinlich werden wir sterben«, sagte er, und diese Überzeugung lud große Schuld auf ihn. »Erij, leih mir lieber
Wechselbalg.
Ich schwöre dir, ich erfülle die gestellte Aufgabe. Was immer man mit diesem Ding erreichen kann, ich werde es tun. Sollte ich überleben, schenke ich dir Ra-hjemur, und wenn nicht, war die Sache sowieso unmöglich. Erij, ich spreche im vollen Ernst. Ich bin es dir schuldig.«
Erij lachte unsicher auf und verbarg den handlosen Arm hinter seinem Körper. »Deine Dankbarkeit ist fehl am Platze, Bastardbruder! Ich hatte die Schwertscheide fallen lassen und bin nur zurückgekommen, um sie zu holen.«
»Du bist rechtzeitig zurückgekommen«, beharrte Vanye. »Erij, spiel es nicht herab: ich weiß, was du getan hast: ich habe dir gesagt, was ich tun würde.«
»Du bist hinterlistig, und ich gedenke, dir nicht zu trauen, schon gar nicht, wenn es um
sie
geht. Du willst mich nur aufhalten, und das dulde ich nicht länger. Steig auf.«
Er konnte dem von Erij eingeschlagenen Weg nicht folgen. Beinahe wäre er auf einem glatten Hang gestürzt; er klammerte sich entschlossen fest, verlor aber einen Zügel. Das gut trainierte Pferd verharrte am Fuße des Hangs; sein Brustkorb bewegte sich heftig zwischen Vanyes Beinen. Er beugte sich über den Sattel und versuchte einen klaren Eindruck von seiner Umgebung zu gewinnen, ohne sich zu bemühen, den verlorenen Zügel hochzuholen.
Erij ritt neben ihm, versetzte seinem Pferd einen Schlag, ließ es antraben. Vanye klammerte sich fest, aber schon blieb das Tier wieder stehen, und ohne sich um Erij zu kümmern, stieg er mit letzter Kraft ab. Er ging zu Fuß weiter, das Pferd führend, auf einen flachen Felsen zu, der eine Sitzgelegenheit zu bieten schien.
Er stolperte, als wäre er betrunken, seine Gliedmaßen schmerzten dermaßen, daß er mehr hinstürzte als sich setzte. Schließlich lag er auf der Seite, zog die Beine an und ignorierte Erijs Versuche, ihn zum Weiterreiten zu bewegen; er brauchte ein bißchen Zeit, damit der Schmerz ihn verließ – mehr wollte er nicht.
Erij zerrte grob an ihm, und Vanye erkannte schließlich, daß Erij seinen Kopf auf den verstümmelten Arm zu heben versuchte; da nahm er dem anderen die Weinflasche ab und trank.
»Du bist ja völlig durchfroren«, sagte Erij wie aus weiter Ferne. »Richte dich auf.«
Allmählich begriff er, daß Erij ihm den Mantel umlegen wollte, und lehnte sich gegen den Bruder, wärmte sich an ihm, bis er zu beben begann und die überanstrengten Muskeln sich in einer Reaktion gegen die Kälte verkrampften.
»Trink«, wiederholte Erij, und er gehorchte. Dann schlief Vanye.
Er wollte nicht lange schlafen, wollte nur mal eben die Augen schließen. Aber als er erwachte, wärmte ihn die Sonne, und Erij saß in der Nähe,
Wechselbalg
in den Armen, wie Morgaine die Waffe gehalten hatte. Erij schlief nicht: Vanyes erste Bewegung ließ ihn hochfahren. In seinen Augen stand Mißtrauen.
»Dort hast du zu essen«, sagte Erij nach kurzem Schweigen. »Geh zum Pferd, wir essen im Sattel. Wir haben schon genug Zeit verloren.«
Vanye erhob keine Einwände, sondern stemmte seinen schmerzenden Körper hoch und gehorchte. Als sie den Schutz des Berges verlassen hatten, fuhr ihm der Wind kalt über die Haut; er war froh über das bißchen Wein, das Erij mit ihm teilte, und über
Weitere Kostenlose Bücher