Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
endlich und neigte die Waagschale der Vernunft, dem Leben zu. »Ist sie bei deiner Geburt gestorben, wie behauptet wird?«
»Ja.«
Roh atmete langsam aus. »Rijan hätte dich lieber ertränken sollen. Vielleicht bedauert er es, daß er es nicht tat. Aber nun bist du hier. So sollst du denn leben, Nhi Vanye, Rijans Bastard. Was sollen wir jetzt mit dir anfangen?«
»Tut, worum sie euch gebeten hat – laßt uns morgen aus diesem Saal weiterreiten.«
»Dienst du ihr freiwillig?«
»Ja«, sagte er. »Ihr Anspruch auf mich ist fair erworben. Ich brauchte Hilfe. Jetzt stehe ich in ihrer Schuld und muß meine Verpflichtung abtragen.«
»Wohin will sie?«
»Sie ist meine Lady«, antwortete er, »und es wäre nicht recht, wenn ich über ihre Angelegenheiten spräche. Kümmert euch um die eigenen Sorgen. Ihretwegen werdet ihr an den Grenzen Probleme mit den Leth bekommen.«
»Wohin will sie, Nhi Vanye?«
»Frag sie selbst.«
Roh schnipste mit den Fingern. Die Männer griffen nach den Schwertern, die vor ihnen am Boden lagen. Sie zogen blank, bis die Spitzen einen Ring um ihn bildeten. Irgendwo im Saal fiel ein Teller zu Boden. Eine Frau eilte katzenhaft leise in einen äußeren Korridor, zog den Vorhang zu und war verschwunden.
»Frag Morgaine«, wiederholte Vanye, und als sein Freiraum weiter schrumpfte und eine Spitze sich sogar vertraulich gegen seine Schulter preßte, bewahrte er dennoch Haltung und zuckte nicht zusammen, obwohl ihm das Herz bis in den Hals schlug. »Wenn du so weitermachst, Chya Roh, muß ich zu dem Schluß kommen, daß die Chya überhaupt keine Ehre mehr haben. Dessen würde ich mich schämen.«
Roh betrachtete ihn stumm. Vanye fühlte sich innerlich krank: seine Nerven waren durch das Warten bis zum Äußersten gespannt; die geringste weitere Steigerung konnte einen lauten Schrei über seine Lippen bringen, der den Saal aufscheuchen und Morgaine aus dem Schlaf reißen mochte. Mutig war er nicht. Schon vor langer Zeit hatte er festgestellt, daß er nicht den Mut hatte, Schmerzen oder Gefahren zu ertragen. Seine Brüder erkannten diese Wahrheit noch vor ihm. Es war dasselbe Gefühl, das jetzt in ihm wogte, dasselbe Gefühl wie in jenem Augenblick, da sie, der schützenden Begleitung des alten San Romen ledig, ihn gepiesackt hatten, bis er weinend in die Knie ging. An jenem schicksalhaften Tag hatte er gegen Kandrys’ Schurigelei zur Waffe gegriffen, ein einziges Mal nur: seine Hände hatten getötet, nicht sein Verstand, der leer und entsetzt gewesen war, und wären seine Hände nicht mit einer Waffe gefüllt gewesen, hätten sie ihn gedemütigt wie immer, wie auch in diesem Augenblick.
Aber Roh schnipste zum zweitenmal mit den Fingern, und man ließ von ihm ab. »Geh an deinen Platz«, sagte Roh,
»Ilin.«
Da stand er auf, verbeugte sich und ging – unglaublich, aber er vermochte ruhig zu gehen – zum Herd zurück. Hier ließ er sich nieder, wickelte sich wieder in seinen Mantel, biß die Zähne zusammen und ließ sich von der Wärme des Feuers das Zittern aus den Muskeln vertreiben.
Mordlust erfüllte ihn. Für jede Beleidigung, die ihm angetan worden war, für das Entsetzen, das er hatte durchleiden müssen, wollte er töten; er drückte sich die Tränen aus den Augen und begann mit dem Gedanken zu spielen, daß sein Vater vielleicht recht gehabt hatte, daß seine Hand vielleicht ehrlicher gewesen war, als er sich selbst klar machte. Er hatte Angst vor vielen Dingen: vor dem Tod, vor Morgaine und Liell und vor dem Wahnsinn Kasedres; doch nichts ließ sich mit der Angst vergleichen, die von seiner Einsamkeit inmitten dieser Verwandten ausgelöst wurde, für die er stets ein Bastard, ein Ausgestoßener sein würde.
Vor langer Zeit, als er noch jung war, hatten Kandrys und Erij ihn einmal in die Vorratskeller von Ra-morij gelockt, ihn dort überwältigt und an einen hohen Balken gehängt, bei Dunkelheit und allein mit den Ratten. Sie waren zurückgekehrt, als er längst kein Blut mehr in den Händen hatte und nicht mehr schreien konnte. Sie brachten Lampen mit, schnitten seine Fesseln durch und beugten sich mit bleichen Gesichtern über ihn, besorgt, daß sie ihn getötet hatten. Später drohten sie ihm schlimmere Strafen an, wenn er die Spuren zeigte, die die Seile an seinen Handgelenken hinterlassen hatten.
Er hatte sich bei niemandem beschwert. Schon damals hatte er die Bedingungen seines Willkommen bei den Nhi erkannt, hatte gelernt, wie er die Fetzen seiner Ehre zusammenhielt und
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