Morgen des Zorns
Dies ist die wahre Ordnung, die diesem meinem Konzept den Stempel des Chaos aufdrückt«.
Kâmleh war zwischenzeitlich an grünem Star erkrankt und nahezu erblindet. Ihre Welt war kleiner geworden, und je kleiner sie wurde, desto kleiner wurde ihr Bewegungsradius. Sie verbrachte ihre Tage in ihrer düsteren Küche hinter dem Spülbecken oder saß auf dem Balkon, der so tief im Schatten lag, dass er sich sogar der Augusthitze widersetzte. Sie hatte eine grüne Hand, die Kâmleh. Jeden Tag stellte sie neue Pflanzenkübel dazu. Am liebsten mochte sie die Blüte der Gerichtsblume, die, wie sie sagte, ihre Blätter zur Mittagszeit schließe, wenn die Sitzung im Gericht beendet sei. Sie saß dort und starrte ins Nichts, die Nachbarn erkannte sie an ihren Schritten. Die Lehrerin, die vor Freude über ihr neues Auto mit ihren hohen Absätzen klapperte, nachdem die Firmen wieder Ratenzahlung für Kunden mit begrenztem Einkommen angeboten hatten. Den blinden Sänger, den seine Tochter in die Kaffeehäuser am Fluss geleitete, oder sogar das Trappeln der Hufe des Esels, der mit einem Bündel Zuckerrohr bepackt zurückkehrte, aus dem sein Pluderhosen tragender Besitzer Körbe in allen möglichen Größen flocht. Sie erkannte auch die Fremden, den Klang neuer Schritte. Wenn sie wollte, sprach sie jemanden an, und wenn jemand sie tadelte, weil sie ihn nicht erkannt habe, rechtfertigte sie sich damit, schwache Augen zu haben. Stundenlang saß sie dort, allein. Manchmal schien es, als erlebte Kâmleh den Verfall ihrer Sehtüchtigkeit wie jemand, der versonnen das Weichen des Lichts in der Dämmerung betrachtet, kurz vor dem Verschwinden der Sonne …
Eines Tages traf ein Brief von Elia ein. Doch er kam irgendwie zur Unzeit, gleich nach einem vorherigen Brief oder nach einer langen Pause, so dass Kâmleh von einem seltsamen Gefühl übermannt wurde. Sie war schon lange nicht mehr in der Lage zu lesen und musste Muntaha, ihre Nachbarin und Gefährtin ihres Lebens, um Hilfe rufen. Muntaha überflog den Brief zuerst stumm für sich selbst, dann erst erzählte sie ihrer Freundin häppchenweise, was darin geschrieben stand. Sie waren aneinander gewöhnt, die beiden Frauen, und sie waren es gewohnt, sich gegenseitig ein wenig zu peinigen. Als Kâmleh erfuhr, dass ihr Sohn zu Besuch kommen werde, lächelte sie. Doch sie stieß keinen Freudenschrei aus.
Elia traf an einem Sonntagnachmittag am Flughafen von Beirut ein. Kâmleh wartete dort gemeinsam mit einer Schar von Nachbarn auf ihn, die sie in zwei Autos begleitet hatten. Nach einer langen Auseinandersetzung hatten sie sie dazu überreden können, die Trauer zu beenden und das blaue Kleid anzulegen, das sie sich einst für ihre allerletzte Reise angefertigt hatte. Sie fuhren mit ihr zum Flughafen, und erst in der Ankunftshalle, inmitten des Gedränges der Menschen, die ihre zurückkehrenden Verwandten erwarteten, wurde ihnen bewusst, dass Kâmleh ihren Sohn nicht sehen konnte und dass sie ihn nicht kannten. Selbst wenn einer von ihnen Elia als kleines Kind einmal gesehen hätte, würde er ihn heute, nachdem er vielleicht ergraut oder sogar kahlköpfig geworden war, nicht mehr erkennen!
– Er wird mich erkennen!
Mit diesen Worten beendete Kâmleh die allgemeine Verunsicherung und förderte ein Foto aus ihrer großen Tasche zutage. Es zeigte Elia, wie er das Abiturzeugnis mit den sehr guten Noten in Empfang nahm, ein großes Foto in einem breiten Rahmen, das sie sich über den Kopf hielt, während die Nachbarn sie in die vordere Reihe der Wartenden schoben. Sie warteten. Wahrscheinlich war Elia einer jener Reisenden, die ihre Koffer hinter sich herzogen und sehnsüchtig zu den sie erwartenden Verwandten blickten.
Elia ging an ihnen vorbei, ohne sich umzudrehen, doch plötzlich vernahm er eine Stimme:
– Elia, Elia!
Er machte auf dem Absatz kehrt. Es wurde eine lange Umarmung. Kâmleh schnüffelte an seinem Gesicht und an seiner Kleidung, sie tastete ihn mit beiden Händen ab, während die Nachbarn wartend dastanden. Mitten in der Flughafenhalle hielt sie Elias Kopf mit beiden Händen und küsste ihn. Sie behinderten die anderen Reisenden, und Elia gelang es nur durch den Druck der Menge mit ihren Koffern, sich ihr zu entziehen. Er trat ein Stück zurück, um sie anzusehen, und erst da vermutete er ob ihrer bedächtigen Bewegungen und der Art und Weise, ihre Hände zu benutzen, dass sie ihr Sehvermögen verloren haben könnte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und beinahe wäre
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