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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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ihm die Kontaktlinse aus dem rechten Auge gefallen. Während der gesamten Fahrt hielt er im Auto ihre Hand, bis sie nachts im Dorf ankamen.
    Zwei Tage nach Elias Ankunft versammelten sich einige Verwandte im Schatten von Kâmlehs Balkon, um sie zu seiner sicheren Ankunft zu beglückwünschen und Neuigkeiten über Elia in Erfahrung zu bringen. Sie besuchten Kâmleh nur selten, sie fürchteten sie, denn trotz ihres vorgerückten Alters hatte sie ihre Kratzbürstigkeit und ihre spitze Zunge nicht verloren.
    Vielleicht würde Elias Rückkehr sie ja ein wenig erweichen. Sie begannen, auf sie einzureden:
    – Wenn du schlau bist, Kâmleh, dann lässt du ihn nicht wieder gehen! Kann er mit seinen Diplomen denn hier keine Arbeit finden?
    – Schön wär’s!, entgegnete sie, als habe sie sich in ihr Schicksal ergeben. Aber er hat nur einen Monat Urlaub. Er muss zurück.
    So log sie.
    – Aber was soll’s?, seufzte sie dann und setzte hinzu: Mein Leben ist vorbei, ich hab sowieso nicht mehr lang …
    Sie versuchten, sie psychisch zu stützen, und schmiedeten einen umfassenden Plan:
    – Du hast ein großes Haus. Wenn er will, kann er ein Stockwerk aufsetzen. Dann überredest du ihn, dass er dir zwei oder drei Enkelkinder in die Welt setzt. Und du lässt dir die Augen operieren, das ist eine ganz leichte Operation, nur mit Laser, und du musst nur einen einzigen Tag im Krankenhaus bleiben …
    – Warum sollte ich denn diese Operation machen?, fuhr sie wie von der Tarantel gestochen hoch. Ich weiß doch auswendig, wie es hier aussieht. Außerdem, was wollt ihr denn, was soll ich denn eurer Meinung nach von hier aus sehen? Diese Frau von Ibrahîm al-Halbi, diese Kuh, wie sie auf dem Dach ihre Unterwäsche aufhängt und sich dabei in den Hüften wiegt? Oder die kahle Fassade von Abu Mansûrs Haus? Ich werde ganz sicher den Tag nicht mehr erleben, an dem sie sie streichen, die haben so viele Schulden wie zwei Hunde Haare …
    Da war sie wieder. Kaum machte sie den Mund auf, schoss sie schon ihre Pfeile in alle Richtungen ab.
    Es hatte keinen Zweck. Deshalb wechselten sie das Thema und sannen über eine Gelegenheit nach, sich zurückzuziehen und wieder an ihre Arbeit zu machen.
    Als hätte sie gespürt, dass sie sie enttäuscht hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sie mit einem Wort zu versöhnen:
    – Ich wusste, dass Elia dieses Jahr kommt, genau zu dieser Zeit …
    Wie sollten sie ihr Glauben schenken?
    – Du hast doch gesagt, du hättest einen Brief von ihm erhalten, in dem er schreibt, dass er kommt …
    – Ich habe schon vor dem Brief mit ihm gerechnet. Ich habe mir vorgestellt, dass er plötzlich auftaucht, ohne mir Bescheid zu geben … Noch bevor Muntaha mir seinen Brief vorgelesen hat, habe ich immer, wenn es an der Tür geklopft hat, gerufen: ›Wer?‹, weil ich das Gefühl hatte, er würde vielleicht kommen …
    – Woher wusstest du das?
    – Eine Mutter weiß so etwas.
    Eine Behauptung, die zu ihr passte. Sie wusste alles, und man konnte nicht mit ihr darüber streiten.
    – Wie das, wo er doch in mehr als zwanzig Jahren kein einziges Mal gekommen ist?, fragten sie, des Fragens schon überdrüssig.
    – Weil er Ende April nächsten Jahres im Alter seines Vaters sein wird, als der in Burdsch al-Hawa getötet wurde …
    Keiner der Verwandten setzte noch ein Wort hinzu oder seufzte auch nur. Sie warteten auf ein Zeichen oder eine Geste, um sich gegenseitig zuzuzwinkern und gemeinsam aufzustehen. Noch ein »Gott sei’s gedankt, dass er gut angekommen ist«. Schon lange erhob sich Kâmleh nicht mehr, um ihre Besucher zu verabschieden.

III
    Als es Farîd zum ersten Mal gelungen war, eine Herrenhose zuzuschneiden, ohne Meister Bûlos um Rat zu fragen und ohne das Tuch »zu verderben«, erzählte er niemandem davon. Mit keinem Wort prahlte er mit seinem Erfolg. Männlichkeit bedeutete in seiner Vorstellung Schweigen, und Männlichkeit stand in jenen Tagen hoch im Kurs. Dass er den Zuschnitt ganz alleine bewerkstelligte, brachte Farîd allerdings nicht den Titel eines »Meisters« ein. Noch immer war seine Hand ein wenig schwerfällig, wenn er die Schere in den Stoff schlug, und noch immer saß er nicht hinter der Nähmaschine. Die Zeit allein würde ihm das Recht auf den Titel verleihen, auf jeden Fall aber nicht, bevor er seinen eigenen Laden eröffnet und sich selbst einige Kunden »herangezogen« hätte.
    Man schrieb das Jahr 1956, als er, ohne Anweisung und ohne den Stoff zu verschneiden, erfolgreich ein

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