Morgen des Zorns
gewesen sei, dass sie noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt habe, auch nur eine einzige Abschiedsträne zu vergießen.
Er kehrte nicht wieder zurück. Zwei- oder dreimal im Jahr erhielt sie einen Brief aus New York. Wie gewöhnlich ein kleines Stück Papier, ein paar Zeilen, die ausreichten, um ihr zu versichern, dass er noch am Leben war. Dazu kamen die Berichte zurückgekehrter Studenten, die ihr Studium in amerikanischen Nachbarstaaten abgeschlossen hatten und mehr über ihn gehört, denn ihn tatsächlich gesehen hatten. Ja, es lässt sich sogar mit einiger Bestimmtheit sagen, dass alle jungen Männer des Dorfes, und es waren auf dem Höhepunkt des Krieges etwa zehn, die dort untereinander enge Beziehungen pflegten, ihn nicht ein einziges Mal auf ihren regelmäßigen Zusammenkünften zu Gesicht bekommen hatten. Nicht in der morgendlichen Sonntagsmesse in der Saint Maron Church, vor der es eigentlich kein Entrinnen gab, und nicht beim darauffolgenden Mittagessen, wo man bei Petersiliensalat und Arrak mit glitzernden Tränen in den Augen den Liedern von Fairûz lauschte. Einige von ihnen reisten eigens mit dem Flugzeug aus anderen US-Staaten an, um sich die Chance dieses Beisammenseins nicht entgehen zu lassen. Sie trafen ihn indes nicht, aber sie hörten viel über ihn, sein Name tauchte in einer mündlich kursierenden Liste von Söhnen des Dorfes auf, die sich in besonderen Bereichen hervorgetan hatten – auch wenn seine »Spezialisierung« stets im Dunkeln blieb … Wer ihn doch ein- oder zweimal zu Gesicht bekam, der beschrieb ihn wie einen anderen Menschen: überzeugt von sich selbst und nur beschäftigt mit seiner eigenen Klugheit, spreche er mit dem Akzent der Bewohner des Mittleren Westens und unterziehe alles seinem wachsam prüfenden Blick. Wie diese Amerikaner, die sich für den Orient interessierten und zu später Stunde oder ganz früh morgens über CNN in hölzerner Sprache Predigten über »strukturelle« Reformen in der arabischen Welt hielten. Ja, er ähnelte ihnen tatsächlich. Groß, schlank, eine Krawatte mit leuchtenden, fernsehtauglichen Farben umgebunden, eloquent, fand er erstaunlich schnell die passenden Worte, als lese er seine Antworten aus einem Buch ab …
Er war dort verschollen, bis ihn vor nicht allzu langer Zeit einer der Söhne des Viertels bei uns entdeckte, hier im »Banden«-Viertel selbst, einer von jenen, denen Elia einst den Rücken gekehrt hatte, als er in die weite Welt gezogen war. Aber er entkam ihnen nicht, sie holten ihn zurück. Ein talentierter Bursche aus der Gegend war es gewesen, der ihn im Internet aufgestöbert hatte. In einem Dorf, das sich frühzeitig zur Ruhe begab, hatte er sich die nächtliche Schwermut durch zielloses Surfen im World Wide Web vertrieben. Er hatte Elias Namen in die seit geraumer Zeit bekannte Suchmaschine Google eingegeben, und Google hatte ihn von einer Website zur nächsten geführt, bis er schließlich auf einer privaten Seite landete, von der er – in Übereinstimmung mit seinen Kameraden – zu dem Urteil gelangte, dass es Elias Seite sei. Auch wenn sie nicht seinen Namen trug, sondern eine Ableitung davon, von der man nur mit Mühe ahnen konnte, dass es sich um einen Propheten aus der Thora handelte.
Der junge Mann verteilte die Adresse der Website an seine Kameraden, die sie von Zeit zu Zeit anklickten, zwischen dem Besuch einer Pornoseite und einem Chat unter falschem Namen, der sich nur allzu rasch zu einem Austausch von Beleidigungen mit Hilfe der wenigen englischen Brocken entwickelte, die sie sich durch das Schauen amerikanischer Gewaltfilme angeeignet hatten. Sie konnten nichts entdecken, was auf Elias Leben oder seinen Geburtsort schließen ließ. Er tat alles, Elia, um keine Spuren zu hinterlassen. Kein Name, kein Hinweis auf den Libanon oder auf sein Dorf oder sogar auf die arabische Welt oder Sprache. Eines Tages aber stellte er ein Foto von sich auf seine Website, halb nackt am Strand, an seiner Seite ein blondes Mädchen, gleichfalls in Badekleidung, das ihm einen verliebten Blick zuwirft. Erst da waren sie sich ganz sicher, dass er es war, auch wenn er keine Brille auf dem Foto trug. Bisweilen vertrieben sie sich die Zeit damit, die Redensarten und Sprüche zu studieren, mit denen er seine Tagebuchaufzeichnungen schmückte. Für sich selbst hatte Elia als festes Motto den Leitspruch gewählt: »Hier werde ich meine Gedanken notieren, ungeordnet und vielleicht sogar in einem durchaus beabsichtigten Durcheinander.
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