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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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weinen, warum sollte ich auch weinen über deine Abwesenheit, wo ich es doch war, die dich auf Reisen geschickt hat? Das ist die wahre Geschichte deiner Mutter Kâmleh: Ihr einziger Sohn, für den sie alles nur Erdenkliche getan hat – ja, ich habe dich sozusagen mit meinen eigenen Händen geschaffen –, hat sich von ihr getrennt mit ihrem vollen Einverständnis. Erinnerst du dich nicht, dass ich eines Tages zu dir gesagt habe:
    – Das Maß ist voll, mein Sohn, das ist ein kaputtes Land. Pack deinen Koffer und geh, bleib keinen einzigen Tag länger hier!
    Ich habe dich aufgefordert, fortzugehen, nachdem ich dreißig Heilige um dich angebettelt habe. Es gibt im ganzen Libanon keinen Flecken, den ich nicht aufgesucht habe, von der Kirche der Jungfrau in Kobayat bis zu einem verlassenen christlichen Kloster im äußersten Süden in der Nähe der Grenze zu Israel. Aus Angst, jemand hätte mir Kinderlosigkeit an den Hals gewünscht, haben sie eine Prozedur mit mir durchgeführt, um den Zauber zu bannen, und mir alle möglichen Ratschläge erteilt: Gib mehr Salz ins Essen, Kâmleh! Bleib danach auf dem Rücken liegen und heb die Beine in die Höhe! Sie haben mir beigebracht, mit den Fingern zu rechnen, und mir den Mondkalender erklärt …
    Barfuß bin ich zum heiligen Antonius Kozhaya gegangen. Ein weiter und beschwerlicher Weg durchs Gestrüpp. Mit blutenden Füßen und zwei Goldmünzen in der Hand kam ich an. Die habe ich ihm auf den Altar gelegt und gesagt:
    – Gib mir einen Jungen, dann wirst du es zufrieden sein, denn ich werde mich nicht lumpen lassen.
    Lach nur über mich, Elia, du glaubst nicht an diesen Aberglauben. Doch wer hat dir gesagt, dass ich daran glaube? Aber wenn ich es nicht getan hätte, dann wäre ich fest davon überzeugt gewesen, meine Pflicht nicht bis zum Ende erfüllt zu haben. Ich habe in voller Länge in der in den Felsen gehauenen Kirche vor dem Altar des heiligen Antonius Kozhaya gelegen. Die ganze Nacht habe ich bei ihm verbracht, bis zum Morgengrauen. Ich wäre beinahe umgekommen vor Kälte, und seit jenem Tag bekomme ich bei der geringsten Unterkühlung Bauchschmerzen.
    Tausendmal habe ich mich vor dem Bild der Jungfrau im Unteren Viertel verneigt und sie darum gebeten, dich mir zu schenken. Ja, genau, in der alten Kirche, du bist auch wieder hingegangen, nicht wahr? Ich wusste, dass du hingehen würdest, um das Bild anzugucken, die kleinen Engel um die Jungfrau herum. Ich bin nachts hineingegangen, zu später Stunde, wenn niemand mehr in die Kirche kommt. Ich habe das Tor verschlossen, um allein in der Kirche zu sein und um meine Stimme erheben zu können. Ich habe geweint und gefragt, warum bist du so egoistisch? Brauchst du all diese kleinen Engelchen um dich herum, warum gibst du mir nicht wenigstens eines von ihnen ab? Dabei habe ich mit dem Finger auf den kleinen Engel gezeigt, der mit seinen Flügeln über ihrer rechten Schulter fliegt. Den mochte ich mehr als die anderen. Manchmal hat sie mir zugelächelt, ich wusste, dass sie mich nicht im Stich lässt.
    Ich habe den heiligen Bandalîmûn in Mirjâta besucht, er ist einer von den griechisch-orthodoxen Heiligen, und seine Kirche wird von Muslimen bewacht. Ich bin sogar heimlich zu muslimischen Scheichs gegangen, aber die Nachbarn haben es herausbekommen und mich ausgelacht. Dein Vater hat mich nicht begleitet, und als der heilige Elias an der Reihe war, hat man uns gesagt, dass der Heilige nur Mann und Frau gemeinsam empfängt. Da habe ich Jûssef so lange angefleht, bis er einwilligte. Ihm waren solche Sachen schrecklich peinlich. Er war einverstanden, mich zu begleiten, aber nur nachts, damit keiner seiner Bekannten ihn sieht, aus Angst, dass sie sich die Mäuler zerreißen. Der heilige Elias war der letzte Heilige, den wir vor Jûssefs Ermordung aufgesucht haben, deshalb habe ich beschlossen, dich Elia zu nennen. Ich hatte Angst um dich. Hätte ich dich nicht Elia genannt, hätte ich die ganze Zeit befürchtet, dir würde etwas zustoßen …
    Insgeheim lachst du über mich. Lach nur, aber ich wünsche niemandem, das zu erleben, was ich erlebt habe. Die Ärzte hatten die Nase voll von mir, ich bin immer alleine zu ihnen hin, und im Krankenhaus Hôtel Dieu hat sich der französische Arzt über mich lustig gemacht und genau wie der heilige Elias zu mir gesagt:
    – Kommen Sie nicht ohne Ihren Mann wieder, er muss sich den medizinischen Untersuchungen genauso unterziehen wie Sie. Und wenn er Sie davon überzeugt haben sollte,

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