Morgen des Zorns
auch die Geschichten stehen mir. Es gibt Menschen, zu denen passen Geschichten, und ich bin eine von ihnen.
Mein Vater hat mich gegen meinen Willen aus der Schule genommen. Eines Tages habe ich meinen Kopf vom Arabischbuch gehoben, da habe ich ihn plötzlich in der Tür vom Klassenzimmer stehen sehen. Ich weiß nicht, warum er seinen roten Fez vom Kopf genommen hatte, als würde er eine Kirche betreten. Nachdem er die Lehrerin um Erlaubnis gefragt hat, hat er mich gerufen und mir befohlen, meinen Tornister zu packen und mitzukommen, ganz einfach so, ohne großes Hin und Her. Er hat sich den Fez wieder aufgesetzt und ist losgezogen. Als ich hinter ihm her durch die Straßen lief, haben sich meine Füße geweigert, vorwärtszugehen, und ich habe mich immer wieder weinend umgedreht. Zu Hause angekommen, hat er mich geküsst. Vielleicht hat er mich zum ersten Mal in seinem Leben geküsst, er hat mich auf die Stirn geküsst und streng gesagt:
– Das reicht. Von jetzt an schadet Wissen den Mädchen nur noch. Ab morgen hilfst du deiner Mutter bei der Hausarbeit.
In jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Am nächsten Morgen habe ich meine Mutter angefleht, die Nonne zu überreden, meinen Vater von seinem Entschluss abzubringen. Meine Schule wurde von lazaristischen Nonnen geleitet, die Direktorin war eine Französin namens Mutter Angèle, die sich von ihrer adeligen und wohlhabenden Familie ihr Erbteil hatte auszahlen lassen, um damit den Bau der Schule in unserem Dorf fertigzustellen. Sie hat mich über alles geliebt. Sie hat mit meinem Vater gesprochen, aber alle Worte halfen nichts. Er hat nur selten etwas entschieden, mein Vater, er hat die Entscheidungen in Sachen Haushalt und Kinder meiner Mutter überlassen, aber wenn er sich einmal eingemischt hat, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hat, dann hat er bis zum bitteren Ende daran festgehalten, als würde sein Leben davon abhängen.
Nein, dumm bin ich weiß Gott nicht. Ich weiß, dass du zu allen möglichen Leuten rennst und aufnimmst, was sie sagen. Lach nicht! Die Aufnahmegeräte sind mittlerweile so klein, dass man sie in eine Hemdtasche stecken kann. Aber nein, ich werde doch deine Kleider nicht durchsuchen, nimm doch auf, so viel du willst! Ich habe auch einen Rekorder in meinem Zimmer neben dem Bett stehen. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, stelle ich ihn an. Da ist nur eine Kassette drin, mit meiner Stimme. Vor einigen Jahren hatte ich noch so eine schöne Stimme. Ich habe Bagdader Klageweisen gesungen und aufgenommen, von denen es heißt, die Gefangenen hätten damit ihre Qualen gelindert: »Ich zog dich groß, mein Hassan klein, warum hast du mich verlassen? Ist das der Lohn für meine Tat, du Licht meiner müden Augen?« Hörst du? Ich habe immer noch eine schöne Stimme! Die Lieder habe ich von meiner Mutter gelernt, ich spiele sie dir vor, wenn du willst. Ich höre die Kassette wieder und wieder, bis ich schlafen kann. Ich schlafe gerne mit meiner Stimme ein.
Wenn ich meinen Plan zu Ende gebracht hätte, so hätte ich meine Geschichte selbst aufgeschrieben, als ich dazu noch in der Lage war. Ich habe es nach deiner Abreise versucht. Ich habe ein neues Heft gekauft, mich an den Tisch gesetzt und mich dabei an meine Schulbank erinnert. Aber da bin ich so traurig geworden, dass ich fast wieder über mich selbst geweint hätte. Auf die erste Seite habe ich den einen Satz geschrieben: »Das ist die Geschichte von Kâmleh Hâdsch Abeed …« Ich benutze gerne meinen Familiennamen, wir sind dafür bekannt, entweder sehr gescheit zu sein oder verrückt. Es heißt, einer unserer Vorväter hätte vor ganz langer Zeit auf seinem Rückweg von Jerusalem in sein Dorf in Syrien zufällig ein Mädchen gesehen, dessen Schönheit ihn so betört hat, dass dieser unser Großvater die ganze Nacht hier in diesem Dorf verbrachte, in der Hoffnung, das Mädchen am nächsten Tag wiederzusehen. Er konnte es nicht ertragen, von ihr getrennt zu sein, und so ist er von einem Tag auf den anderen hiergeblieben, er hat sie geheiratet, und man nannte ihn Hâdsch, Pilger. Auf die erste Seite von meinem Heft habe ich geschrieben: »Das ist die Geschichte von Kâmleh Hâdsch Abeed. Sie beginnt an dem Tag, an dem sie, gekleidet in ihr perlenbesticktes Hochzeitskleid, das Haus ihres Vaters verließ und man sie hochhob, damit sie den Teig über die Haustür ihres Mannes klebte, der aber nicht gut hielt, bis zu dem Tag, an dem ihr einziger Sohn das Flugzeug nach Amerika bestieg und
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