Morgen des Zorns
Sie haben ihn hinterrücks erschossen.
Nein, ich habe dir das bis heute nicht erzählt, ich habe dir gar nichts erzählt. Bevor du fort bist, warst du zu jung, oder ich habe dich für zu jung gehalten und es dir deshalb nicht erzählt. Du hast es von den Leuten erfahren, von hier und da. Und heute weiß ich, dass du gekommen bist, um Fragen zu stellen, und dass du mich nicht fragen willst. Du suchst die Witwen von Burdsch al-Hawa auf, und mich fragst du nicht. Die Leute reden, wie es ihnen gerade gefällt, du wirst nichts erreichen bei ihnen, sie werden dich belügen. Wer einen Verwandten oben verloren hat, versucht einen Helden aus ihm zu machen, der den Preis für seine aufrechte Haltung bezahlt hat. Und wer selbst oben war und sich aus dem Staub gemacht hat, weiß nicht, was er sagen soll, der schweigt lieber. In beiden Fällen – wenn er es vorgezogen hatte zu fliehen, wird er nicht reden, und wenn es ihm gelungen ist, einem Feind eine Kugel zu verpassen, wird er auch nicht reden. Ich weiß noch, dass ich den Arzt gefragt habe: Wie wurde mein Mann getötet? Da hat er zu mir gesagt: »Sehen Sie: Die beiden Kugeln sind hier eingedrungen, in den Rücken, dies ist ein kleines Loch, und hier sind sie wieder ausgetreten, durch die Brust, hier ist das Loch größer.« Ja, dein Vater war ein mutiger Mann gewesen, er konnte schießen und er wusste zu kämpfen, aber sie haben ihn hinterrücks erschossen. Ich habe all die Geschichten gehört, alle Namen hat man mir um die Ohren gehauen, aber das bringt alles nichts, vierzig Jahre danach.
Ich werde dir keinen Rat geben, denn ich habe nicht das Recht dazu, aber wenn du heiratest, dann besteh darauf, dass deine Frau dir ganz schnell ein Kind schenkt. Ich bin sicher, dass es ein prächtiger blonder Bub mit blauen Augen wird wie du. Mach dir keine Sorgen, lach nicht, schäm dich nicht, sie haben mich beruhigt und mir gesagt, dass sie schön ist, das schönste Geschenk, das Gott der Frau macht, ist die Schönheit, glaub mir, sie wird nicht viel wert sein, wenn sie nicht schön ist. Mach ihr ein Kind, besteh darauf, und sag dir, dass das die größte Gnade ist, die Gott dem Menschen gewährt.
VII
Der Mann ist über sechzig, ein dunkelhäutiger, schmaler Typ; er sitzt hinter der Waage, sieht ein bisschen aus wie ein betagter Taugenichts. Er stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch und blickt hinaus. Das alte Steingewölbe schützt ihn vor der Hitze.
Von seiner Position aus kann er einige Meter der Straße einsehen; auch einen Teil des Platzes und des Westportals der Kirche. Die vorbeifahrenden Autos wirbeln Staub auf dem Platz auf; die gleißenden Strahlen der Sonne draußen lassen den Raum, wo der Mann auf das Mittagessen wartet, noch dunkler erscheinen.
Seine Frau wird es ihm gleich bringen, Okraschoten mit Reis, Oliven, zwei scharfe grüne Peperoni. Und ein Glas Arrak, damit er die Mahlzeit herunterbekommt. Er mag alles, was scharf ist, aus Anhänglichkeit gegenüber seinem Geburtsort, São Paulo. Seine Frau hat ein gepunktetes Kopftuch umgebunden, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln, stellt sie die Teller auf den Tisch neben die alte Waage, dann kehrt sie nach Hause zurück. Nach einem langen gemeinsamen Leben haben sie sich nicht mehr viel zu sagen.
Sein Laden ist nie wieder so geworden wie vor dem Vorfall. Er verfiel genauso wie seine Gesundheit. Nachdem zuerst immer häufiger der Strom ausfiel, dann der Kühlschrank kaputtging und er die Hoffnung auf eine Reparatur aufgegeben hatte, hörte er auf, Joghurt und Käse und alles was einer Kühlung bedarf, zu verkaufen. Dann verzichtete er auf alles, was faulen kann, Gemüse und Obst, Bananen, Kisten mit Orangen. Er begnügte sich mit bunten Tüten Kartoffelchips und zwei oder drei Sorten Zigaretten, mit leeren Glasgefäßen, die noch erahnen lassen, welche Getreidesorten sie einst enthielten, und mit einem von der Decke hängenden Metallkorb, in den seine Frau den Überschuss an frischen Eiern deponiert, die ihre Hühner legen.
Trotzdem schließt er den Laden nicht. Er weiß nicht, was mit den übrigen Läden geschehen ist; es hatte vier oder fünf am Platz gegeben. Dann war einer nach dem anderen geschlossen worden, die Kinder gingen in die Schule und erhielten eine Ausbildung, oder sie wanderten aus und sicherten ihren Familien eine bequeme Rente. Außer ihm ist niemand geblieben; er ist hartnäckig, er kommt um sieben und verlässt den Laden erst um acht Uhr abends. Und den ganzen Tag über sitzt er da und schaut
Weitere Kostenlose Bücher