Morgen des Zorns
Sohn …
– Und wennschon …
Einen Augenblick lang ist Elia beunruhigt. Es kommt ihm vor, als würde ihn ein Auge von oben beobachten und verfolgen, doch da entdeckt er den Fahrer. Er schläft ausgestreckt auf dem Fahrersitz, schnarcht im Schatten des Chinabaums. Elia ist beruhigt.
– Der Fahrer hat es Ihnen erzählt …
Der Mann redet weiter, ohne Elias Vermutung zu bestätigen:
– Da war ein Fotograf, der Ihrem Vater und seinem Kumpel angeboten hat, ein Foto von ihnen zu machen, ich kann mich erinnern, dass sich Ihr Vater für das Foto eine Zigarette in den Mund gesteckt hat. Das war Mode damals, wenn ein junger Mann sich fotografieren ließ, hatte er immer eine Fluppe im Mund. Ich verheimliche Ihnen nichts, ich erzähle Ihnen, was ich gesehen habe. Einige Minuten später hallten die Schüsse über den Platz, da habe ich mich hinter der Theke versteckt, und als ich den Kopf wieder gehoben habe, da war der Laden leer …
Es gibt Berichte, bei denen der Zuhörer sicher ist, dass sie unvollständig sind und dass der Berichterstatter mehr weiß, als er sagt. Da sind Gesten, Augenbewegungen. Der Ladenbesitzer, Sohn eines heiratsfreudigen Vaters und einer brasilianischen Mutter, peppt seine Erzählungen gerne etwas auf. Das scheint in seiner Natur zu liegen.
– Mein Sohn, da sind Leute durch die Kugeln ihrer Verwandten gestorben …
Dann setzt er flüsternd nach:
– Oder durch die Kugeln ihrer Freunde …
Als Elia sich zum Gehen wendet, fügt der Mann hinzu:
– Auf jeden Fall …, glauben Sie nicht alles, was Sie hören.
Diesen Rat geben ihm alle.
Der Ladenbesitzer isst seinen Teller Okraschoten mit Reis leer und schlürft den letzten Rest Arrak aus dem Glas, das vor ihm steht, während Elia einen letzten Blick auf den Kirchplatz wirft. Auf dem Rückweg schweigt der Taxifahrer, doch immer wenn sich vor einer engen Kurve oder bei einem unfreiwilligen Halt eine Gelegenheit bietet, wirft er Elia durch seinen Rückspiegel einen flüchtigen Blick zu.
VIII
Die Häuser der einfachen Leute – sie bilden die Mehrheit – sind klein und ärmlich. Vorwiegend aus einem oder zwei Räumen bestehend, mit einem Abort im Freien. Sie hocken nah übereinander in eng gebauten Vierteln, niedrige, feuchte Hütten, mit einem Dach aus Lehm, der im Winter zum Schutz vor durchsickerndem Wasser gewalzt wird; im Mai sprießen Frühlingsgräser darauf. Als einer der Notabeln zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein dreistöckiges Gebäude aus Sandstein errichtete – das Geld dafür hatte er mit großer Wahrscheinlichkeit während seiner ersten Emigration erworben –, nannte man es stolz »das Gebäude«. Vorher hatte man ein anderes Haus als »das größte« bezeichnet, ein geräumiges, Ehrfurcht gebietendes Bauwerk mit einem Gewölbe, das einer der Scheichs vor mehr als einem Jahrhundert erbaut hatte; und da der Staat kein größeres Gebäude gefunden hatte, wurde es in den vierziger Jahren zum Regierungspalast auserkoren.
»Große Häuser« bestehen nach Meinung der Leute aber nicht nur aus behauenem Stein, einem doppelten oder dreifachen Gewölbe aus Bögen und später aus französischen Bienendachziegeln, wie sie sie jene nur allzu gern kopierten, die entweder in der Emigration oder durch den Haschischschmuggel von der Bekaa-Ebene zur Küste zu Vermögen gekommen waren, oder aber von jenen, die nach der Unabhängigkeit große öffentliche Bauprojekte durchgeführt hatten. Nein, ein »großes Haus« verfügt darüber hinaus über eine hohe, stets geöffnete Tür und einen langen, reichlich gedeckten Tisch und ist darauf vorbereitet, die armen, ungebildeten, grobschlächtigen Schlucker mit ihren naiven Fragen und ihrer grenzenlosen Begeisterung zu dulden, die sich glücklich schätzen, bei den Hausbewohnern sitzen zu dürfen und ihnen einfach nur zu lauschen und ihre kleinen Gesten zu beobachten.
Diese »Häuser« dienen unweigerlich Dichtern, Pilgern und in den Orient entsandten Europäern als Anlaufstation. Sie werden diese in ihrem Bericht erwähnen, wenn sie für das Außenministerium tätig sind, oder in den Erzählungen rühmen, die sie über ihre Reisen veröffentlichen: die Gastfreundschaft und Großzügigkeit der Bewohner des »Hauses«, die sogar goldene Gabeln und Messer beim Essen benutzen, was im gesamten Orient einer großen Seltenheit gleichkommt.
Die Bewohner eines großen Hauses tragen auch osmanische Titel wie Bey und seltener Pascha. Diese werden nach einem Besuch bei einem Minister in
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