Morgen des Zorns
Auf dem Sockel ist ein Gedichtvers unbekannten Ursprungs eingraviert: »Ihr Busen war von Angst erfüllt, da glaubten sie, die Erde habe Männer geboren.« Der Reiter zückt sein Schwert hoch in die Lüfte, der Blick ist auf den Horizont vor dem Platz der Kirche des heiligen Georg gerichtet. Der zückt gleichfalls seine Lanze vom Rücken seines Pferdes aus, auf einem großen Ölbild, welches hoch über dem Altar hängt und die Signatur des Malers Daoud Corm trägt, der sich, inspiriert von der italienischen Renaissance, die Heiligen aller Kirchen in prachtvollen Gewändern vorstellte.
Es ist aber nicht die Statue eines Mannes, der in der Erde begraben liegt, denn der Leichnam des Reiters wird noch immer in der Kapelle aufbewahrt; er liegt, nicht einbalsamiert, in einem gläsernen Sarg. Ja, alle bestätigen, dass er nicht einbalsamiert wurde. Seit mehr als hundert Jahren defilieren die Besucher pausenlos an ihm vorüber. Man könnte sogar meinen, er sei gar nicht tot, denn man setzte seinen Namen an die Spitze der Liste der ersten Volkszählung, die nach dem Großen Krieg durchgeführt wurde, obwohl er bereits mindestens dreißig Jahre vorher verstorben war. Auf diese Weise ist er der erste der Lebenden und der älteste der Toten. Durch die Nennung seines Namens ersuchten sie ihn um Hilfe, sie erbaten seine Fürsprache, wenn sie etwas Wertvolles verloren hatten oder wenn einem Jungen das einzige Geldstück aus der Tasche gefallen war, das er besaß.
Sie verteilten Kalender mit seinem Namen, mal mit seinem Bild darauf, wie er an jenem Tag vor dem Papst in Rom stand, als sich die Konsuln der europäischen Staaten in Absprache mit dem maronitischen Patriarchen, der ihn angeblich fürchtete, darauf geeinigt hatten, ihn ins Exil zu schicken; mal, wie er eine mit Goldfäden durchwirkte Schürze trägt. Sie benannten die Fußballmannschaft sowie Vereine nach ihm, die von Auswanderern in Mexiko und Argentinien gegründet worden waren. Sie fertigten Modelle aus Holz, Eisen und Lehm für eine große Statue von ihm an, und die Maler bildeten seine in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geschlagenen Schlachten mit den Leichenbergen ab, und wer ein Meister seiner Kunst war, malte sogar sein morgenschönes Gesicht mit seinen männlichen Zügen. Sie schmiedeten all ihre Verse für ihn, sie beweinten ihn und baten den Himmel, ihm und seinen Männern den Aprilmond scheinen zu lassen, auf dass er ihnen in der Nacht der Schlacht dabei helfe, die Feinde zu besiegen. Sie nannten ihn »Held des Libanon«, er war tugendhaft und jungfräulich, und weil er die Züchtigkeit liebte, verbot er den Frauen, ihre Ärmel bis zum Ellbogen zurückzustreifen.
Nach ihm gaben sie den Söhnen seines Bruders den Vorzug, deren ihrer drei waren, und die die Verantwortlichen im Gouvernorat mit Verwaltungsposten zufriedenstellten. Doch wie bei den Söhnen der großen Häuser befürchtet, bekam der erste, der früh starb, keine Kinder, denn seine Frau, so wurde vermutet, sei unfruchtbar gewesen. Der zweite hatte einen männlichen Nachkommen, der in der Blüte seiner Jugend an einer Krankheit verschied, die Atemnot verursachte. Da das Leiden sich hinzog, ließen sie als Gelübde für seine Genesung die Tiere fasten und flehten so lange kniend die Jungfrau in ihrer kleinen, auf einer der Anhöhen kauernden Kapelle an, dass ihnen das Blut von den Knien floss. Seine Mutter lehnte es ab, ihn beerdigen zu lassen, bevor sie nicht selbst das Zeitliche gesegnet hatte, und bewahrte ihn in einem fest verschlossenen Sarg bei sich auf, bis man sie zwanzig Jahr später zuerst durch die Tür des Hauses trug, ganz wie sie es sich ausgebeten hatte.
Dem dritten wurde kurz vor seinem Tod von seiner zweiten Frau ein Junge geboren. Doch statt darauf zu warten, dass der Knabe heranwachse, wählten sie unter seinen weit entfernten Verwandten einen Führer, der dem gemeinen Volk entstammte. Ein Schuhmacher war er, aber ein kräftiger Bursche immerhin. Es war die Zeit, als sich die Welt zu verändern begann und erste Konkurrenten am Horizont auftauchten. Doch die Söhne der großen Häuser verfügten noch immer über ihre Anhänger aus den kleinen Familien, die bei Hochzeiten und Feierlichkeiten anlässlich von Neugeborenen Trommeln aller Art und Größe schlugen; sie jubelten, wenn der Erbe des Hauses eine offizielle Prüfung erfolgreich bestand; sie versammelten sich um das Haus, wenn einer der Bewohner von einer Krankheit oder einem flüchtigen Fieber befallen
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