Morgen des Zorns
Seiten Risse bekommen hatten, die nur mit Mühe wieder geklebt werden konnten. Weil manche Seiten nur noch aus Fetzen bestanden oder das Geschriebene getilgt worden war, fielen zahlreiche Namen dem Vergessen anheim, so dass diese Familien in ihrer Existenz bedroht waren.
Heute ist es ihnen möglich, sich durch die reine Anzahl zu behaupten, die Anzahl der Wähler in ihrer Familie. Vom Innenministerium erhalten sie auf Wunsch eine CD, die ihre Wählerlisten vor dem Verschwinden rettet, und so sind sie heute in der Lage, ihre Verwandten zu zählen, wie sie namentlich in den Wählerlisten aufgeführt werden. Bedauerlich finden sie allerdings, dass diejenigen von ihren Familien, die in weit entfernte Länder in Lateinamerika oder nach Australien ausgewandert waren, sich nicht die Mühe gemacht hatten, ihre Kinder registrieren zu lassen, denn dann wäre ihre Anzahl doppelt so hoch. Wenn sie heutzutage mit Hilfe von Google nach den Namen ihrer Familien forschen, stellen sie auch fest, dass Mitglieder der Ratsversammlung von Bahrain oder auch der marokkanischen Fußballnationalmannschaft den gleichen Familiennamen und mitunter auch den gleichen Vornamen tragen wie sie selbst. Einige mit dem Internet vertraute junge Männer wurden von einem solchen elektronischen Eifer erfasst, dass sie sogar Websites für ihre Familien anlegten, »samaani.com« zum Beispiel, und dafür ein Familienlogo entwarfen, das aus einem Schwert, einem Buch und dem Stab einer religiösen Autorität bestand. Auf den Websites trugen sie die Geburten der Familie in der Heimat und in der Fremde ein, Eheschließungen und Todesfälle, sie schickten sich gegenseitig die elektronischen Adressen, tauschten Neuigkeiten über bedeutende Persönlichkeiten ihrer Familien aus und wiesen darauf hin, wenn berühmte Personen der Familie irgendwo Erwähnung fanden – ein Historiker, der die Ewigkeit des Mont Liban beteuert und für dessen Werke General de Gaulle ein Vorwort verfasst hatte; ein Maler, der in ein weit entferntes Land ausgewandert war und dessen erstes und einziges Thema seiner Malerei seine Kindheit mit ihren Farben war und blieb. Immer größer und verzweigter wurden ihre virtuellen Familien. Sie prahlten damit, dass sich auch ein Arzt zu den Ihren zählte, der sich in der Nervenchirurgie in Kalifornien einen Namen gemacht hatte, oder ein Richter, der für das Amt des Bürgermeisters von Mexico City kandidierte, oder aber ein Pfeiler der australischen Rugbymannschaft.
Hinter jeder Familie hatte jemand gestanden, der sich um die Zusammenführung gekümmert hatte, ein Notabler oder ein Wohlhabender, der in der Hauptstadt freundliche Beziehungen zu Monsieur Plafond, einem der Assistenten des französischen Hochkommissars, zu knüpfen begonnen hatte, oder zu einem der Angestellten der britischen Delegation, denen er das Versprechen abrang, sie zu unterstützen. Am Ende der Woche ins Dorf zurückgekehrt, fügte er seiner sich auf sich selbst besinnenden Familie so viele bekannte Verwandte hinzu, wie er konnte, darüber hinaus Nachbarn, denen man das Tragen des Namens der großen Familie gewährte und die auf diese Weise zu Verwandten gemacht wurden, oder sogar jene, die den Namen ihrer kleinen Familien den Familiennamen der Ehefrau anhängten. Jede Familie hatte auch ihr »Oberhaupt« und ihren Kandidaten für einen Abgeordnetensitz, der die Bewohner der großen Häuser nachahmte, indem er alles daransetzte, ein Domizil im »libanesischen« Stil, wie es hieß, zu erbauen; genau wie er darauf bedacht war, keine Frau aus dem eigenen Dorf zu ehelichen.
Als sie sich auf diese Weise auf ihre Namen und Familien besonnen hatten, glaubten sie, diese hätten bereits seit ewigen Zeiten existiert. Umso verwunderter waren sie über die Erklärungen eines jungen Historikers, der auf eigene Faust nach Istanbul gereist war und die »Tapu Defteri«, die osmanischen Katasterregister, die auf das sechzehnte Jahrhundert zurückgingen, einer Prüfung unterzog, nachdem das türkische Kulturministerium sie zur Akteneinsicht freigegeben hatte. Der klärte sie darüber auf, dass ihre Vorfahren simple Namen getragen hatten, bestehend aus dem Vornamen des Mannes und dem seines Vaters: Risk, Ibn Girgis, »Risk, der Sohn von Girgis«, oder einfach Isaac, Ibn Ibrahîm, »Isaac, der Sohn von Ibrahîm«. Sie interessierten sich nicht dafür, was er ihnen über die Anzahl der Weizentennen erzählte, über die Olivenpressen, die Kühe, die Obstbäume und die Steuern, die ihre Vorfahren
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