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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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mal dem Wali von Damaskus bezahlt hatten, mal dem Wali von Tripolis, was für kräftige Bauern sie gewesen waren, die unwegsames Gelände urbar gemacht und Unterdrückung erlitten hatten; dass aus ihren Reihen fromme und lautere Männer der Religion gekommen waren, Bischöfe und Patriarchen, die ihnen ihren Glauben erklärt und in seltenen Werken und in zahlreichen Sprachen festgeschrieben hatten; Mönche, die die erste Druckerpresse in den Orient gebracht und in ihrem Dorf die erste Schule im Mont Liban gegründet hatten, in diesen Bergen der Wissenschaft und der Heiligkeit. All das erregte ihre Aufmerksamkeit nicht. Stattdessen waren sie schockiert, als sie sicher bestätigt wussten, dass ihre Namen – die Namen ihrer Familien, von denen sie, sobald die Diskussionen darüber entbrannten, behaupteten, sie hätten mit ihrem Blut dafür bezahlt –, dass diese Namen zu jener Zeit gar nicht existiert hatten und dass sie diese Familien in der Zeit der Demokratie, in der es auf die pure Anzahl ankam, vielleicht sogar selbst erfunden hatten.
    Eine Familie unterteilte sich in Zweige, die sie »Dschubb« – Brunnen – nannten, und jeder »Dschubb« hatte seine besonderen Eigenschaften. Dazu gehörte etwa, dass die Männer des soundso Dschubb gewöhnlich an einer erblichen Herzkrankheit starben, andere eines anderen Dschubb stark gesalzenes Essen bevorzugten oder wiederum andere für ihre Feigheit bekannt waren und bereits bei Sonnenuntergang ihre Schlafkleidung anzogen oder ihre Schulden nicht beglichen, weil ihr Großvater ihnen so zu tun geraten hatte. Und sie webten Berichte über mutige Taten, denn eine jede Familie hatte ihre »Helden«, grundlos finster dreinblickende Gesellen, deren Ruf ihnen vorauseilte; selbst an weit entfernten Orten sprach man über ihre Heldentaten, und ein jeder von ihnen hatte seinen Spitznamen, mit dem er prahlte. Dann begannen sie, wenn auch nur flüsternd, die Anzahl ihrer »Gewehre« zu zählen. Bevor sie sich in »Familien« unterteilten, hatten sie alle zusammen starke Männer hinter sich gehabt, die nicht die Namen der großen Familien trugen und die von den Familien als Vorbilder betrachtet wurden, wie etwa Butros Tûma, der mit der geschulterten Kanone auf die Feinde losgegangen war; oder Ghasal und Akûri, die in den hohen Bergen durch Kugeln aus den Gewehren der türkischen Soldaten getötet worden waren, nachdem ihnen die Munition ausgegangen war; und Sarkîs Naûm, der die Menschen in der Zeit der Hungersnot und der Belagerung während des Großen Krieges auf dem Mont Liban ohne eine Gegenleistung mit Weizen versorgt hatte, und der eines Tages verraten worden war.
    Sie stellten sich gemeinsam in einer Reihe auf, um bei einem jeden Verstorbenen aus ihrer weit verzweigten Familie die Beileidsbezeugungen entgegenzunehmen, aber wenn sich einer gegen seine Verwandten stellte, dann betrachteten sie ihn als Kommunisten oder als Freimaurer und fragten sich, wie es möglich sei, die eigene Familie zu verleugnen. So wurde aus der Blutsverwandtschaft eine drückende Verpflichtung, selbst für jene, die nicht viel zu bieten hatten. Dann wollten sie ihre Frauen nicht mehr außerhalb der Familie suchen, und einige wappneten sich schon vor den Gefahren der Zukunft und mieteten oder kauften sich ein Haus ganz in der Nähe der Verwandtschaft. Dinge des täglichen Bedarfs und Nahrungsmittel kauften sie nur noch in den Läden der Söhne der Onkel, selbst wenn diese weit von ihren Häusern entfernt lagen. Wenn aber Mitglieder verschiedener Familien – selbst jene, unter denen die größte Konkurrenz bestand und die tief zerstritten waren – sich zufällig in der Hauptstadt Beirut oder irgendwo außerhalb ihres Dorfes trafen, tauschten sie herzliche Grüße aus und boten sich gegenseitig wiederholt und eindringlich ihre Dienste an. Sie meinten es ernst mit der gegenseitigen Fürsorge, denn obwohl sie ihre familiären Spaltungen bis nach Sydney, Caracas und Mexico City mitgenommen hatten, wagten sie es nicht, ihre Rechnungen dort mit Gewalt zu begleichen. Stattdessen begnügten sie sich damit, Sitzungen einzuberufen, auf denen sie sich gegenseitig den Rücken stärkten und ihren Verwandten in der Heimat Hilfe anboten, indem sie die Familienkasse mit ein paar Dollar speisten, welche sie sich im Schweiße ihres Angesichts hatten absparen können. Sie gruben Redensarten aus wie »Wer sich seiner Kleidung entledigt, friert« und »Blut wird nicht zu Wasser«, Redensarten, die sie jenen ins Gesicht

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