Morgen des Zorns
Söhne der kleinen Familien aber, die sich keine edle Herkunft zusammengeschustert hatten – manchen von ihnen hätte es ihre Anzahl erlaubt, doch sie waren nicht mit einem Notabeln gesegnet gewesen, der die Familie zusammenführte –, waren mit ihrer Weisheit am Ende, und so begnügten sie sich später als Trost für ihre Enttäuschung damit, sich an der Familienkasse zu beteiligen, um die Kosten einer Bestattung zu bezahlen oder einen mittellosen Kranken aus ihren Reihen zu unterstützen. Dann verteilten sie ihre Loyalität auf die großen Familien, auf dass sie hier mal »lafîf« – Menschengruppen aus verschiedenen Stämmen mit unterschiedlicher Abstammung – genannt wurden, dort »carra«, was in Lisân al-Arab, dem wichtigsten Wörterbuch der arabischen Sprache, so viel bedeutet wie fremde Tiere, die sich einer Herde anschließen. Sie legten eine übertriebene Loyalität an den Tag und boten mit großem Eifer ihre Dienste an; sie verfassten in Zeiten von Wahlen dürftige Hymnen, streckten ihre Köpfe aus den Autofenstern und machten das Victory-Zeichen; sie verteilten sich auf die Dörfer und die umliegenden Ländereien und garantierten dort die Wahl ihrer Anhänger; sie warfen den Unterstützern ihrer Gegner finstere Blicke zu und schickten aus ihren Reihen Vertreter in alle Dörfer und Wahllokale, die der Männer wie der Frauen, streiften bereits Wochen vor den Wahlen Tag und Nacht durch die Dörfer und lehnten es ab, am Wahltag hinter die Abtrennung zu treten, um ihren Wahlzettel in aller Öffentlichkeit in die Urne fallen zu lassen und dadurch ihre Loyalität zu ihren Führern unter Beweis zu stellen.
Weil der Gouverneur des Nordens nun gefürchtet hatte, dass sie aufeinanderstoßen würden, hatte er von jeder Seite verlangt, ihn über ihr Wahlkampf-Besuchsprogramm zu informieren, damit sie nicht aufeinandertreffen und zu den Waffen greifen würden. Er hatte jedoch übersehen – man erzählte sich auch, er habe dies absichtlich und aus politischen Gründen getan –, dass sie gemeinsam den einjährigen Todestag des Bruders des Erzbischofs in einer der Ortschaften am Hang des Berges begehen würden. Auge in Auge hatten sie sich nun dort gegenübergestanden und waren in einem Meer von Blut und jahrzehntealten Racheakten versunken, in einem offenen Krieg, in dem sie Barrikaden errichtet und Kanonen und schweres Maschinengewehrgeschütz hatten auffahren lassen. Kein Unschuldiger, der nicht entführt, kein zufälliger Passant, der nicht von Kugeln getroffen worden wäre. Sollte es dem Staat aber eines Tages in den Sinn kommen, seine Soldaten loszuschicken, um die Kämpfer zu trennen und Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen, und sei es nur für ein paar Monate, dann würde der Krieg sich von den Straßen in die Herzen zurückziehen und nur auf eine Gelegenheit warten, von neuem seine Funken zu versprühen.
IX
Genau um fünf Uhr hat Haifa Abu Draa einen Schrei ausgestoßen.
Einen Schrei, so scharf wie ein Messer.
Ich war zu Hause bei meiner Familie. Bis heute wohne ich dort, und ich werde das Haus auch erst verlassen, wenn ich sterbe. Ich habe nie geheiratet. Wir waren drei Mädchen, richtig dicke Freundinnen waren wir in unserer Kindheit gewesen, jeden Tag sind wir zusammen umhergestreift. Nachmittags sind wir Hand in Hand am Fluss spazieren gegangen, in unseren schönsten Kleidern. Alles Mögliche haben wir getan, damit uns die Jungs ansprechen. Aber wenn wirklich mal ein ungestümer Bursche, den wir uns ausgeguckt hatten, mit uns reden wollte, sind wir ganz rot vor Scham geworden und haben unseren Blick abgewendet. Wir sind so lange rot vor Scham geworden und haben den Blick abgewendet, bis wir am Ende alle drei unverheiratet geblieben sind.
Als Haifa Abu Draa geschrien hat, war ich zu Hause gewesen, weil ich Sonntage nicht mag. Ich verstehe nicht, was die Menschen daran finden, ich verbringe den Sonntag wie die anderen Tage auch zu Hause. Abgesehen von der Messe, finde ich nichts Besonderes daran. Ich gehe zur Messe, dann komme ich zurück, wasche und spüle und streite wie auch an allen anderen Tagen der Woche mit meiner Mutter. Wir werden laut, vertreiben uns die Zeit, streiten über alles. Seit meiner Kindheit mag ich die Hausarbeit, ich mag es, wenn alles sauber und ordentlich ist, und ich streite gerne mit meiner Mutter.
Der Schrei von Haifa Abu Draa gefiel mir gar nicht, und auch meine Mutter war beunruhigt. Sie saß vor mir auf der Bank und häkelte einen Bettüberwurf. Wir haben uns
Weitere Kostenlose Bücher