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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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für seine Seele zu erbitten, rutschend zuerst, dann bäuchlings den heiligen Vasken anflehend, inmitten eines erschöpften Haufens schwarz gekleideter Frauen, Nonnen und Mädchen des Waisenhauses, in einer einem Heiligen der Maroniten geweihten Kirche. Stammelnd ersuchte er um Hilfe, ohne zu wissen, was er eigentlich sagte, denn das Krachen der Kugeln in seinem Kopf übertönte alles, was seinem Mund entfuhr. Wie Kinder, die sich weigern zu schauen, wenn sie dazu aufgefordert werden, hielt er die Augen zusammengepresst; geduckt, in sich selbst zusammengesunken, stieß er gegen die Körper der Frauen, während er in Wirklichkeit hinter ihnen Schutz suchte. Nein, er würde nicht mit offenen Augen sterben. Das Knattern der Schüsse lärmte in seinem Kopf, die Kugeln trafen seinen gesamten Körper, eine Stimme schrie, die Stimme eines einzelnen Mannes, die mit aller Kraft rief, immer wieder rief, ohne innezuhalten:
    – Leute …, fürchtet Gott!
    Er vernahm nicht das anschwellende Geheul um sich herum. Das Stöhnen einer jungen Frau, die an der Schulter getroffen worden war und stark blutete; das Geschrei einer Nonne, die von einem hysterischen Anfall gepackt wurde, die zitterte und ununterbrochen mit den Zähnen klapperte, während sie das Kreuz küsste, das sie an einer Kette um den Hals trug. Das Entsetzen der Nonne brachte ihn an den Rand des Abgrunds. Er hörte nur die Stimme des Mannes, mit aller Kraft klammerte er sich an die zornige, laut vernehmliche Stimme, als sei sie ein rettendes Seil. Wenn der Mann weiterhin schrie, dann würde Nischân Hovseb Davidijân, der fünfundzwanzigjährige Fotograf, am Leben bleiben.
    Er klammerte sich auch an die neue Zeiss Ikon, die ihm um den Hals hing, und an das an den heiligen Vasken gerichtete Gemurmel. Es war wie das Murmeln seiner Mutter. Er legte sich die Kamera in den Schoß und beugte seinen Körper darüber. Er nahm die Ausdünstungen der Frauen und der Nonnen wahr. Die gewellten Haare, das im Herzen brennende Ammoniak, billiges Parfüm, in das sich der Geruch von Schweiß mischte, Hitzeschweiß, Angstschweiß und der Schweiß der von Gottes Kindern überfüllten Kirche. Er will nicht sterben, und er will nicht, dass die Zeiss Ikon zerbricht, die so wertvoll ist. Er hatte das Glück gehabt, sie zum halben Preis von einem Mann zu erstehen, der sie nur einen einzigen Monat lang benutzt hatte und dann gezwungen gewesen war, sie einer Reise wegen zu verkaufen. Nischân würde sich keine neue anschaffen können. Bisher war sie nur zweimal zum Einsatz gekommen, bei einer Hochzeit und bei einer Zeugnisübergabe. Er war fest entschlossen, die Zeiss Ikon zu retten, was immer es auch kostete.
    Er straffte seinen Körper, bereitet sich darauf vor, den tödlichen Schuss zu empfangen. Der nächste Schuss würde ihn treffen. Hauptsache, er träfe ihn nicht am Kopf. Eine Kugel im Kopf wäre nicht zu ertragen, glaubte er, den Schmerz mehr fürchtend als den Tod. Er dachte an seinen Vater, an seine Mutter. Wahrscheinlich saßen sie in aller Ruhe Seite an Seite beieinander, er die armenische Zeitung lesend, sie häkelnd, vielleicht murmelte sie ein schnelles Gebet für den heiligen Vasken. Und er war hier, im Hagel der Kugeln, die wie Steine niederprasselten. Er würde nicht entkommen, nur wenn der Mann weiterschrie und er sein Geschrei weiterhin vernahm …
    Plötzlich beruhigte sich die Welt und das Leben kehrte zurück. Er öffnete die Augen, und da sah er die Sonnenstrahlen, die durch die hoch oben gelegenen Luken hereindrangen. Er spürte, wie sein Blut wieder zu zirkulieren begann. Die Schüsse schwiegen, und auch der in der Kirche schreiende Mann schwieg. Nischân Davidijân war am Leben geblieben. Nach und nach entspannte sich sein Körper. Als erstes hob er den Kopf. Niemand in der Kirche wagte es aufzustehen. Das Stöhnen der Verwundeten erhob sich gerade, als es von einem durch Mark und Bein gehenden Schrei unterbrochen wurde. Nischân begann die Getöteten zu mustern. Er würde nie erfahren, wer der Mann gewesen war, der in der Kirche geschrien hatte. Er erkundigte sich auch nicht nach ihm. Später erinnerte man sich in seiner Gegenwart häufig an viele Details, doch niemals erwähnte jemand diese Stimme und ihren Besitzer. Nur Nazaret fragte er. Später, als er ihn nach zwei oder drei Tagen zu Hause besuchte, da fragte er ihn, ob er in der Kirche jemanden brüllen gehört habe, lauter als das Knallen der Schüsse. Nein, er habe nichts gehört, hatte Nazaret entgegnet, er

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