Morgen des Zorns
hatten. Er hatte der jungen Journalistin nicht widerstehen können. Er wusste selbst nicht, wie sie es geschafft hatte, ihm das Foto abzuluchsen. Das Foto von den fünf jungen Männern. Diese jungen Männer, die ihn zu sich gerufen hatten, fünf waren es gewesen, die dort standen und darauf warteten, dass die Beerdigungszeremonie begann. Er erinnerte sich noch, wie er sie aufgefordert hatte, sich dicht nebeneinander aufzustellen. Sie legten sich gegenseitig die Arme um die Schultern, und er hatte das Gefühl, dass sie einander zugetan und sehr glücklich waren, zusammen aufgenommen zu werden. Alle waren getötet worden. Alle fünf. Er hatte sie fotografiert, und er hatte andere Männer fotografiert, die auf dem Platz gestanden hatten. Die Journalistin hatte ihm das Foto abgenommen, schäkernd und kokettierend. Sie hatte ihm auch hundert Pfund gegeben. Sie war eine schöne Frau, und sie hatte ein Gewissen. Nach ihr tauchten Männer bei ihm auf, die bei dem Vorfall dabei gewesen waren, oder deren Verwandte. Er öffnete seine Tür auch für die Angehörigen der Opfer. Bis hierher verfolgten sie ihn, bis in die Stadt. Er erkannte sie, sobald sie auf der Schwelle seines Ladens standen. Einmal trat einer von ihnen ein, steckte die Hand in die Tasche seines Jacketts und sagte:
– Ich stelle Ihnen einen Blankoscheck aus. Sie geben mir, was Sie haben, und notieren dafür den Betrag, den Sie verlangen.
Sie fürchteten keine Zeugen, sie fürchteten kein Verfahren und keinen Richter, sie hatten Angst vor den Fotos. Ein kleiner Mann mit dicken Fingern erschien eines Morgens. Finster dreinblickend, stellte er Davidijân die einschlägige Frage, doch er erreichte nichts. Davidijân wiederholte, dass er als Fotograf wie die anderen auch Reißaus genommen habe, als das Feuer eröffnet worden war:
– Der Fotograf haben Angst, mein Freund, du sein ein Held, du keine Angst, aber der Fotograf haben Angst …
Er erzählte ihm, wie er sich auf den Boden geworfen und bei den Frauen Schutz gesucht hatte.
– Du können glauben? Ich hinter Frauen verstecken!
Mit Feigheit konnte man sich am leichtesten aus der Affäre ziehen. Aber der Mann mit den dicken Fingern glaubte ihm nicht. Er lockte ihn in das Hinterzimmer des Studios. Dorthin, wo der junge anmutige Davidijân, der Held des Karambolage-Billards jener Tage, Fotos für Personalausweise aufnahm und entwickelte, wo er abseits der Blicke der Passanten mit hübschen Mädchen flirtete, nachdem er die Ladentür geschlossen und das »Bin gleich zurück«-Schild aufgehängt hatte. Der kleine Mann stieß ihn gegen die Wand, legte ihm seine Pranke auf die Schulter, zückte eine Pistole und hielt sie ihm drohend an den Kopf. Vermutlich war ebendies der Moment gewesen, wo Davidijâns Zuckerspiegel zu steigen begann.
Nischân Davidijân hatte lange Jahre bei ihnen verbracht. Er war ihr einziger Fotograf gewesen, bis Nazaret gekommen war. Dann war Jorge im Ort aufgetaucht, ein Araber, der den Beruf in Amerika erlernt hatte; aber der war verrückt. Nischân hatte aus tiefster Seele befürchtet, dass auch die Araber anfangen könnten, das Handwerk zu erlernen und auszuüben. Aber Jorge schnappte ihm keine Kunden weg, er lebte auch nicht lange, der Arme.
Alle waren sie zu Nischân gekommen, in das Hinterzimmer, in dem er sich sein Studio eingerichtet hatte. Zuerst hatte er für die Aufnahmen eine Waffe beschafft. Waffen waren ihre Religion, sie beteten sie an, diese war eine alte Flinte, die nicht mehr funktionierte, mit zwei Patronengürteln, die man sich um die Hüfte schnallen oder über Kreuz um den Hals hängen konnte. Außerdem besaß er einen Agâl und eine Kufîjeh, das traditionelle Kopftuch mit der dicken Kordel zum Festbinden, die ihre arabische Männlichkeit zur Schau stellen sollten. Wenn einer dies wünschte, so hatte er für ihn auch ein Schwert parat, zwei Schwerter besser gesagt, eines davon gebogen.
Männer suchten ihn alleine auf, nicht weil sie von ihrer Schönheit oder ihrer Erscheinung übermäßig eingenommen gewesen wären, sondern weil sie in weiser Voraussicht ein Foto machen lassen wollten, das später einmal dem eigenen Beerdigungszug vorausgetragen oder nach ihrem Ableben im Haus aufgehängt werden sollte. Plötzlich fürchteten sie, ins Jenseits überzugehen, ohne ein Foto zu hinterlassen, das die Familien an sie erinnern würde. Ein Mann posierte in voller Bewaffnung vor Davidijâns Objektiv, selbst wenn er, wie er sich ausdrückte, zu Hause nicht einmal ein
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