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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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Schüssen an ihr Ohr drang. Alles in der Kirche erstarrte, selbst die Hymnen verstummten nach und nach. Mit Ausnahme eines alten Priesters, der womöglich taub war und nicht begriff, was vor sich ging; er alleine sang die maronitische Beerdigungsmelodie weiter.
    Nazaret war nicht tot. Er eilte Nischân zu Hilfe. Er fand ihn auf dem Boden, unfähig, auf den eigenen Füßen zu stehen. Wen hatte Nazaret denn schon außer Nischân? Jede Familie zog sich auf eine Seite zurück, die Toten und einige Verwundete blieben auf dem Boden liegen, eine Nonne beugte sich über einen Verletzten, der sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte, während sie ihm ruhig zusprach, dass er gerettet werde. Auch die beiden armenischen Fotografen blieben. Einer war außerstande zu gehen, und dem zweiten war die Zunge gelähmt. Davidijân begann zu reden, unablässig, er hörte gar nicht mehr auf. Wer dem Tod von der Schippe gesprungen ist, der redet ununterbrochen. Auf dem Weg zum Auto stützte Nazaret ihn schweigend.
    – Eine Welt ohne Gewissen und ohne Religion!, sagte Nazaret nur.
    Er sagte es auf Armenisch.
    Und mit der Welt meinte er die Menschen.
    Man brachte sie zum Verhör, zum Regierungspalast und zur Kaserne, zweimal, dreimal, viermal, die Sicherheitskräfte und sogar das Militär … Beim ersten Mal tauchten zwei Ermittler in Zivil in Davidijâns Laden auf, in den Händen ein französischsprachiges Magazin. Sie schlugen es bei einer Aufnahme von fünf jungen Männern auf und fragten ihn, von wem sie stamme.
    – Ich habe keine jungen Männer fotografiert!
    Davidijân leugnete. Er leugnete ohne zu zögern, und deshalb kamen sie wieder. Bald waren sie da, stiegen aus dem Jeep, durchsuchten seinen und Nazarets Laden. Sie stellten alles auf den Kopf, öffneten Apparate, verschütteten Entwicklerflüssigkeit, zündeten die Filme an und hielten das Fotopapier ins Licht. Sie wollten sie mit ihren Fragen in die Enge treiben:
    – Name? Alter? Beruf?
    – Mein Beruf? Was soll das heißen, mein Beruf?
    Eine viertel Stunde dauerte es, die armenischen Namen zu buchstabieren, Name des Vaters Hovseb, das ist schon schwierig auszusprechen, zu schreiben erst recht.
    – Wo warst du?
    – Ich war hinten, weit weg, bei den Frauen, bei Gott!
    Er schwor bei Gott, vielleicht würde der Ermittler dann aufhören, ihm Fragen zu stellen.
    – Was hast du gesehen?
    – Ich, Baba, hab nichts gesehen, ich hab was gehört.
    – Was hast du gehört?
    – Ich hab Schüsse gehört … wie Regen, ich hab Frauen schreien gehört und eine Nonne, die hat geweint, und auch kleine Kinder, Waisenmädchen, die Schuluniformen anhatten …
    Er erzählte ihm nichts von der Stimme des Mannes, der ihm das Leben gerettet hatte. Die Stimme der Frauen war hässlicher gewesen als das Sirren der Kugeln.
    – Was hast du gemacht?
    – Ich hab die Augen zugemacht, Baba, ich will nicht mit offenen Augen sterben. Ich hab die Augen zugemacht und sie ganz fest zugedrückt, bis die Schüsse aufgehört haben. Dann hab ich die Augen aufgemacht, und da floss Blut von meinem Bein, hier.
    Er lüftete seine Hose, um ihm die Wunde zu zeigen, die zu heilen begonnen hatte.
    – Wo sind die Bilder?
    Von da an fragten ihn alle:
    – Wo sind die Bilder?
    – Wir haben nichts fotografiert, glaub mir, mein Freund!
    – Und wenn wir dich ein bisschen härter rannehmen, wenn wir dir die Ohren langziehen, dann wirst du doch gestehen, nicht wahr?
    Er hielt stand, gab ihnen nichts. Er wollte niemandem schaden, der Davidijân.
    Kurze Zeit später aber packte er seine Sachen und zog in die Stadt hinunter. Er nahm Reißaus. Er ließ Nazaret alleine da oben. Glückwunsch! Soll er sie doch bis zum Abwinken fotografieren, er wird sie ihm nicht mehr neiden.
    Die Staatsbeamten hörten auf, ihm Besuche abzustatten, sie beendeten ihre Verhöre, beruhigten sich und ließen ihn in Ruhe. Nun kamen andere, Neugierige, denen man entweder gesagt hatte oder die vermuteten, dass er fotografiert hatte, wie die Männer ihre Pistolen zückten. Wenn sie die Fotos sehen würden, so glaubten sie, könnten sie diejenigen identifizieren, die geschossen hatten. Journalisten kamen zu ihm, die ihm Geld anboten, und auch diese französisch sprechende Journalistin suchte ihn auf. Vielleicht war sie auch bei Nazaret gewesen, aber der verstand sich nicht auf Frauen. Er selbst, Nischân Hovseb Davidijân, war es gewesen, der ihr das Foto gegeben hatte, das dann in jenem Magazin veröffentlicht worden war, nach dem ihn die Ermittler gefragt

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