Morgen des Zorns
sei an der Tür zur Sakristei zwischen den Priestern eingezwängt gewesen, die vom Altar geflohen waren. Nischân stellte seine Frage nicht noch einmal. Er fürchtete, sein Landsmann könne sich über ihn lustig machen. Vielleicht war da ja gar niemand gewesen, der geschrien hatte, vielleicht hatte Nischân den Lärm einzig und allein in seinem Kopf gehört.
Er öffnete die Augen und sah das Blut auf seiner Hose. Es floss aus seinem rechten Bein. Ein schwarzer Fleck auf der blauen Hose. Er spürte keinen Schmerz, er spürte nichts. Die Wunde war sichtbar, bevor er sie überhaupt spürte. Er war noch immer bei vollem Bewusstsein und hatte schreckliche Angst, aber er war nicht gestorben. Er hatte einmal gehört, dass man, von einer Kugel getroffen, zuerst keinen Schmerz verspüre, der Schmerz stelle sich erst ein, wenn die Kugel abgekühlt sei. Der Tod war also immer noch möglich, hier, er würde ihn von unten packen, emporsteigen, vom Bein zum Herzen. Er bemerkte ein Gedränge am Kirchportal und war sich plötzlich sicher, dass Nazaret getötet worden war, bereitete sich auf diese Eventualität vor. Gleich mit dem Einsatz des Kugelhagels hatte er gesehen, wie Nazaret die Leute in der ersten Reihe fotografierte, die Honoratioren und die Angehörigen des Verstorbenen und den Klerus, während er selbst sich nach hinten zu den Frauen zurückgezogen hatte, um von dort ein Foto des Altars mit den Priestern zu machen. Als sie zusammen die Aufnahmen des Geschehens betrachteten, lächelten sie über die Tatsache, dass Nazaret auf Nischâns und Nischân auf Nazarets Foto zu sehen war. Zwei Fotografen, in den Händen die großen runden Blitzlichtgeräte. Nazaret hatte den Kugeln mehr Angriffsfläche geboten als er.
Damals waren die Magnesiumblitzlichter in Mode, selbst draußen im Sonnenlicht blendeten sie in den Augen. Hagob, sein Lehrer, hatte ihm geraten, das Blitzlicht in allen Situationen zu benutzen. Es verhindere, dass sich Schatten auf den Gesichtern abzeichneten, wie er sagte. Nischân hatte nicht gewusst, dass Nazaret sich in Burdsch al-Hawa einfinden würde, sonst wäre er nicht auch noch gekommen. Im Juni war Hochsaison in der Schule, für Erinnerungsfotos. Der Lehrer und seine Schüler auf einer Holztribüne. Eine halbe Stunde dauerte es, bis man sie alle zum Schweigen gebracht und der Größe nach aufgestellt hatte. Doch die Schulen zahlten gut, und jeder Schüler war verpflichtet, ein Foto seiner Klasse zu kaufen, kein übles Geschäft also.
Er hatte Nazaret auf dem Platz außerhalb der Kirche getroffen. Die beiden Fotografen fanden sich ohne Aufforderung bei Beerdigungen ein. Zuerst teilten sie den Platz unter sich auf, in der Hoffnung, unter den Männern, die trotz der Hitze in Anzügen steckten, Kunden zu gewinnen. Er kannte sie, die Anzüge dienten dazu, einen Revolver unter dem Jackett zu verbergen. Einige Männer riefen ihn zu sich, sie stellten sich in einer Reihe auf, legten einander die Arme um die Schultern, als Zeichen der Zuneigung, aber wie üblich lächelten sie nicht. Er fotografierte sie neben dem Laden, dann begleiteten er und Nazaret die Prozession vom Trauerhaus bis zur Kirche. Sie redeten und scherzten auf Armenisch über die Köpfe der finster dreinblickenden Männer hinweg miteinander.
Gewöhnlich sprach er nicht viel mit Nazaret, nur das Nötigste. Er war sein Konkurrent, dieser Nazaret, war ihm bis Barka hinterhergekommen, hatte begonnen, ihn nachzuahmen und ihm die Kunden wegzuschnappen. Bis hierher hatte er ihn in dieser weiten Welt Gottes verfolgt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Vor dem Portal der Kirche bekamen sie es mit der Angst zu tun und sprachen nun fast ausschließlich in ihrer Sprache. Die Männer blickten empört in ihre Richtung, als sie das armenische Geschwätz vernahmen.
Ohne Vorwarnung begann es plötzlich zu regnen, was ihre Angst noch verstärkte. Unzählige Priester und Nonnen waren anwesend. Die beiden hatten den Eindruck, dass alle Männer Pistolen trugen und sich gegenseitig Blicke zuwarfen. Scharfe, bedrohliche Blicke, die auch sie nicht aussparten. Wegen des einsetzenden Regens löste sich die Prozession auf, und die Menge betrat in aller Eile die Kirche. Dort fühlten sich die beiden sicherer! Solange die Leute in der Kirche waren, würde nichts passieren. Während der Messe hätte die Wut keinen Platz. Gebete und syrische Gesänge setzten ein, einige Minuten lang leuchteten ihrer beider Blitzlichter auf, bevor von draußen das Geräusch von
Weitere Kostenlose Bücher