Morgen früh, wenn Gott will
fiel mir ein, dass Louis ja gar nicht da war, und wieder rammte ich mir die Nägel in die Handfläche. Aber vielleicht war es ja Mickey. Ich stieß das Fenster auf, um hinauszusehen, aber es war nicht Mickey, sondern nur Maxines Verabredung. Er hupte nochmals, ein ganz großer Macker mit dunklen Augenbrauen, dazu Headset und Goldkettchen am Arm, das er ungeduldig gegen den roten Lack seines Wagens klicken ließ. Er sah nicht her, obwohl ich sicher war, dass er mich gesehen hatte. Stattdessen strich er sich im Spiegel das Haar zurück.
»Nein, Maxine. Machen Sie sich keine Sorgen.« Ich schnaubte, weil es mich ärgerte, dass sie mich weinen gesehen hatte. »Ein neuer Typ?«, fragte ich, ein wenig zu heiter. »Super Wagen. Aber was ist denn mit dem netten Leo passiert?« Jetzt errötete Maxine unter ihrem wasserstoffgebleichten Haarschopf und murmelte etwas von »immer noch aktuell«. Die Parfümwolke, die sie hinter sich her schleifte, entstammte vermutlich meinem Frisiertisch. Mit ziemlich schlechtem Gewissen erinnerte ich mich daran, wie häufig ich mir zurückgesetzt oder ausgeschlossen vorkam – von Mickey, meinen Freunden und ja, auch Maxine. Ich war neidisch auf das aufregende, sorgenfreie Leben, denn meine Freiheit hatte mit der Mutterschaft ein Ende gefunden. Ich war an Louis und ans Haus gefesselt. Jetzt aber hatte jemand anderer meinen Sohn – und ich würde töten, um meine Fessel zurückzubekommen.
Leigh brachte mir ein Glas Wasser, doch dann kam ihr eine andere Idee, und sie holte den Brandy heraus und goss mir ein Glas ein, das ich auf einen Sitz austrank.
»Vielleicht möchtest du dich ja noch in Ordnung bringen, Jess«, sagte sie ein wenig steif. Da merkte ich erst, dass meine armen, übervollen Brüste mittlerweile Milch absonderten, sodass mein neues T-Shirt voller Flecken war. Zusammen mit meinem teebefleckten Rock gab dies eine nette Kombination. Doch das war mir egal.
»Zieh dich um. Du wirst dich gleich besser fühlen. Ich halte derweil die Stellung«, sagte sie, doch ich schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht. Die Polizei …«, murmelte ich. Doch sie schob mich resolut über die Treppe nach oben und steckte mich unter die Dusche. Dort lehnte ich mich gegen die Fliesen und seufzte und seufzte, während die blauweiße Milch von meinem angeschwollenen Busen tropfte. Ich weinte, bis ich einfach nicht mehr wusste, was ich tun sollte. Alles, was ich von der Welt wollte, war doch nur, mein Baby im Arm zu halten. Dann würde ich auch nie mehr etwas verlangen, ich würde ihn nie wieder loslassen, ihn nie wieder aus den Augen lassen – wenn er nur jetzt endlich nach Hause käme. Ich kämpfte gegen das Gefühl an, das sei alles nur mein Fehler, meine gerechte Strafe für die ersten schlimmen Tage.
Und dann, als ich das Gefühl hatte, definitiv keine Tränen mehr zu haben, kam Leigh herein, und sogar das war mir egal, obwohl wir noch nie großartig nackt voreinander herumgelaufen waren, aber vielleicht war ja die Polizei endlich gekommen. Ich sah sie an, und plötzlich wurde mir angst und bange, doch bevor ich noch etwas sagen konnte, meinte sie schon mit barscher Stimme:
»Zieh dir etwas über, und komm runter. Schnell.« Der drängende Tön in ihrer Stimme ließ mir die Haare zu Berge stehen. Noch bevor sie den Raum verlassen konnte, war ich schon aus der Dusche und griff nach ihrem Arm. Ich muss sie irgendwie gezwickt haben, denn sie jammerte kurz, und ich sagte: »Was ist los? Sag’s mir, Leigh – was?« Und sie sagte, immer noch in diesem merkwürdigen Ton: »Sie haben Mickey gefunden.« Eine Sekunde lang verspürte ich Erleichterung, dann fiel es mir auf: »Mickey? Und was ist mit Louis? Wo ist mein Junge?« Leigh konnte mich nicht ansehen. Sie konnte mir einfach nicht ins Gesicht sehen. Sie reichte mir nur meinen Morgenrock, dann wandte sie sich ab und ging zur Tür. Und ob es nun der Brandy war, den ich auf nüchternen Magen getrunken hatte, oder Mickeys Scotch oder die impulsive Bewegung nach vorn oder einfach nur der Schock, jedenfalls wurde ich ohnmächtig. Offensichtlich stürzte ich zu Boden wie ein gefällter Baum. Einen Augenblick lang war mein Gehirn leer, was in diesem Moment, wie ich später bemerken würde, ein Segen war.
Kapitel 4
Mein Junge weinte. Ich konnte ihn hören. Er weinte leise, ich sollte nicht so träge sein. Ich muss aufstehen und nach ihm sehen. Aber irgendetwas drückte mich aufs Bett, und ich kämpfte dagegen an.
Wach. Draußen war es dunkel. Mein Kopf
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