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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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beruhigend auf mich ein. Er schien recht geduldig zu sein, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, was er sagte. Ich war in Gedanken ganz woanders, ich stellte mir dauernd seine fleckigen Zähne vor. Als er meinte, es sei zu früh, um sie als vermisst zu bezeichnen, gab ich bissig zurück:
    »Wie lange müssen sie denn fort sein, damit ich sie vermisst nennen darf?« Er sagte etwas von vierundzwanzig Stunden, doch weil es sich um ein Baby handelte, würde man die Meldung vielleicht früher aufnehmen, aber so früh auch wieder nicht. Und er versuchte, mich zum Lachen zu bringen, doch welchen Grund hatte ich schon zu lachen? Und so bog er das Lachen zum Husten um, räusperte sich und meinte: »Haben Sie schon Freunde und andere Familienmitglieder angerufen?«
    Auf der anderen Seite der Leitung flammte ein Zündholz auf. Ich dachte an meinen Schwiegervater, der in seinem Pflegeheim im Westen von Belfast langsam senil wurde. An Mickeys einzige Schwester Maeve, die in Kalifornien gerade mit dem fünften Kind schwanger war. Zögernd fuhr Fleckenzahn fort:
    »Ich muss das fragen, Madam: Hatten Sie heute mit Ihrem Mann Streit?« Irgendwo im Hintergrund dämmerte mir die Frage, ob Kabbeleien über Schokoladenkuchen und Dicksein wohl als Streit zählten. Tapfer antwortete ich.
    »Nun ja; irgendwie … eigentlich nicht, nicht wirklich. Jedenfalls über nichts Ernstes, wissen Sie. Nur so ein kleiner Krach.«
    Danach war von seiner Seite nur vielsagendes Schweigen zu vernehmen, in dem ich mir ziemlich albern vorkam, doch dann meinte er, er würde einfach die Daten aufnehmen, obwohl er sicher sei, dass alles wieder in Ordnung käme, aber für den Fall … Als ich mich von ihm verabschiedete, wusste ich, dass der Beamte mich einfach für überspannt hielt, aber ich war es nicht, wissen Sie, kein bisschen. Ich fühlte nur einfach tief in mir, dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte. Ich wollte eigentlich laut losschreien, doch das tat ich nicht, denn das tun wir einfach nicht. Jedenfalls tat ich es nicht, damals.
    Blindlings stolperte ich ins Badezimmer. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, dann lehnte ich mich gegen die Wand und schloss die Augen. Ich brauchte einen Plan, einen richtigen Plan.
    Ich ging in Louis’ Zimmer hinauf. Dort spendete die alte Esche hinter dem Haus Schatten, sodass es fast immer kühl war, kühl und still. Plötzlich verspürte ich den Drang, mich auf den Boden zu legen, unter das Sternenmobile, das von der Decke baumelte, doch ich kämpfte diesen Impuls nieder. Stattdessen ging ich über den dichten, weißen Bettvorleger mit dem Muster aus blauen Giraffen zum Gitterbettchen meines Jungen. Und obwohl ich sah, dass er nicht da war, obwohl ich wusste, dass er nicht drin lag, blieb ich davor stehen und sah hinein. Ich hielt mich an den Gitterstäben fest, dann legte ich seinen weichen Bären an das eine Ende, wo sein Kopf immer lag. Wo dieser Kopf eine kaum sichtbare Einbuchtung auf dem Kissen hinterlassen hatte. Schnell ging ich wieder hinaus.
    Vor Mickeys Arbeitszimmer blieb ich einen Augenblick stehen. Ich fühlte mich wie eine Fünfjährige, die auf die Erlaubnis ihres Vaters wartet. Dann atmete ich tief durch und stieß die Tür auf.
    Staub tanzte in den Lichtstäben, die durch die Jalousien fielen. Draußen machte sich der Abend breit, der Raum roch merkwürdig. Nach meinem Mann, vielleicht. Ein vertrauter, eher sinnlicher Geruch. Wie ein ungeschickter Geheimagent blätterte ich den Terminkalender auf seinem Tisch durch. Immer schneller wurde ich beim Umblättern, doch meine Hoffnung erwies sich bald als falsch. Für diesen Tag gab es keinen Eintrag. Ich holte die große Rollkartei vom Regal, wo sie wie eine dicke, fette Spinne neben Mickeys Scotch hockte. Plötzlich merkte ich, dass mein Mund total trocken war. Schnell sah ich über die Schulter und drehte den Verschluss auf. Ein schneller Schluck, dessen Schärfe mir Tränen in die Augen trieb. Trotzdem nahm ich noch einen. Ein wenig gestärkt, begann ich, nach und nach all seine Freunde anzurufen. Ich rief jeden Menschen an, dessen Namen ich schon einmal gehört hatte. Und dann alle, von denen ich noch nie gehört hatte. Alle, die ich erreichte, wirkten schrecklich höflich – höflich und ein wenig verdutzt. Und natürlich wusste niemand, wo Mickey war, obwohl – wie sein Freund Greg mit lautem Lachen sagte – es sei doch typisch für den alten Mistkerl, so mir nichts, dir nichts zu verschwinden! Wahrscheinlich sei er in

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