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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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sich. Ein Baby, ein lebloses, kleines Baby. Ich würgte. Wie eine Schlafwandlerin tappte ich auf sie zu. Sie hielt eine Puppe in den Armen. Es war nur eine Stoffpuppe. Das Mädchen bettete die Puppe vorsichtig in den Kinderwagen und deckte sie mit einer dünnen Decke zu.
    Ich rannte zurück in den Flur, zur zweiten Tür, doch diese war verschlossen. Trotz der Musik vernahm ich Stimmen. Ich drückte die Klinke nieder, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich sah den schwarzen Jungen auf einem alten Lehnsessel sitzen, der magere Junge mit dem fleckigen Gesicht und ein Punk mit gebleichtem Irokesenschnitt saßen auf dem Sofa. Sie waren so tief eingesunken, dass ihre Knie fast höher waren als ihre Köpfe. Der Junge hielt das Feuerzeug an etwas, das aus einer alten Coladose gemacht war. Gierig sog er die aufsteigenden Dämpfe in sich ein, als hinge sein Leben davon ab. Ich erschauderte, als ich erkannte, dass er eine Crackpfeife hielt. Der Junge hatte die Augen geschlossen und kratzte wie wild an seinem Arm. Der Typ mit dem Irokesenschnitt sah mich an und zog fragend eine Augenbraue hoch. Auch er war dabei, sich etwas zuzubereiten.
    »Hast du gerade so rumgebrüllt?«, fragte er.
    »Ich suche mein Kind«, flüsterte ich.
    »Na, hier ist es nicht«, sagte er ruhig. »Und jetzt halt den Mund. Mit dem ganzen Krach haben wir in null Komma nichts die Bullen hier, und das wollen wir doch nicht, Schätzchen, oder?« Wortlos schüttelte ich den Kopf. »Dann verpiss dich jetzt, okay?«
    Robbie tauchte hinter mir auf. »Du gehst jetzt besser, Jess.«
    Ich entwand mich ihm und ging zurück zum Kinderwagen.
    »Ich möchte nur wissen, wieso Sie eine Puppe spazieren fahren«, sagte ich zu dem Mädchen, obwohl ich wusste, dass sie mir nicht weiterhelfen konnte. »Haben Sie denn überhaupt ein Baby?«
    Sie machte sich zum Abmarsch bereit und schob die Ohrhörer in ihre zarten, kleinen Ohren, die hinter ihren Zöpfen hervorlugten. Zuerst starrte sie mich an, dann drehte sie die Puppe um und öffnete den Reißverschluss in ihrem Rücken. Eine längliche, schwarze Platte wurde sichtbar. Es sah aus wie Schokolade, die zwischen die Baumwollfüllung gerutscht war.
    »Ein bisschen Speed für die Jungs. Alles klar, Schnüfflerin? Und jetzt lass mich mit deiner Fragerei in Ruhe, du Kuh. Hast du mich verstanden?« Wieder bleckte sie die Zähne, dann verschloss sie den Rücken der Puppe und bettete sie erneut sorgfältig zurecht. Beinahe liebevoll.
    Robbie schob mich zur Tür.
    »Bitte komm mit«, flehte ich ihn an. »Das ist doch ein übles Loch hier, Rob, und das weißt du auch.« Meine Augen füllten sich mit Tränen, ich griff nach seiner Hand. Sie war eiskalt. »Du gehörst nicht hierher. Komm und bleib bei mir, wenn du möchtest. Bitte bleib nicht hier. Ich könnte wirklich ein wenig Gesellschaft gebrauchen.«
    Doch seine Augen wichen mir aus. »Ich habe hier geschäftlich zu tun«, sagte er ruhig. Ich spürte, wie seine ganze Gestalt sich vor Scham zusammenzog, doch er würde nicht mit mir kommen. Er beugte sich zu mir herab und küsste mich auf die Wange. »Ich rufe dich an, okay?«
    Als ich über den Hof eilte, sah ich den Mann mit seinem Pitbull immer noch unter dem Baum stehen. Der Hund war nun beinahe wahnsinnig vor Wut. Er hatte den Gummiring immer noch nicht. Er würde ihn nie erwischen.
    Deb wartete zu Hause auf mich wie eine gackernde Glucke. Sie wies mich zwar nur höflich daraufhin, dass wir schließlich aufs Polizeirevier müssten, aber ich spürte den tadelnden Ton in ihrer Stimme.
    »Hat man Sie jetzt zu meinem Anstandswauwau ernannt?«, fragte ich müde und ließ mich in den Sessel sinken. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, ihr von Robbie zu erzählen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, wie tief mein kleiner Bruder gesunken war.
    »Nein, natürlich nicht, Jessica. Ich bin nur hier, um ein bisschen nach Ihnen zu sehen. Es tut mir leid.« Sie strich sich das Haar zurück. »Brauchen Sie … brauchen Sie ein bisschen mehr Abstand?«
    Sofort fühlte ich mich mies. »Das war nicht ernst gemeint, Deb«, sagte ich schnell. »Ich bin nur so müde und verängstigt. Und heiß ist es auch noch. Da werde ich immer unausstehlich. Ehrlich: Ich bin Ihnen wirklich dankbar.« Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie selbstverständlich ich es nahm, dass sie sich um mich kümmerte, dabei wusste ich nichts über Debs Leben.
    Allerdings war sie damit auch sehr zurückhaltend. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Privatleben

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